Ein Positionspapier für gerechte Verhältnisse auf den Straßen
Kurzzusammenfassung
Unser derzeitiges Verkehrsrecht ist veraltet. Es privilegiert gegenüber „schwächeren“ Verkehrsteilnehmer*innen einseitig den Autoverkehr und bremst so die notwendige soziale und ökologische Verkehrswende aus. Mit diesem Positionspapier plädiert die Fraktion DIE LINKE für eine umfassende Reform des Verkehrsrechts und schlägt zweierlei vor:
- Einen grundlegenden Neustart des Straßenverkehrsrechtes, der die bestehende Straßenverkehrs-Ordnung durch eine Straßennutzungs-Ordnung ersetzt. Das Ziel ist ein zukunftsweisender und gerechter Ausgleich der unterschiedlichen Verkehrsteilnehmenden anhand sozialer und ökologischer Kriterien statt einseitiger Privilegien für Autos. Dieser Neustart muss demokratisch gestaltet werden unter Einbeziehung der relevanten Akteure aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
- Schnelle Verbesserungen im bestehenden Verkehrsrecht. Wir weisen den Weg zu einer umfassenden Neuordnung, indem wir konkrete Schritte vorschlagen. Dazu gehören unter anderem:
- Sichere Wege für Fuß und Rad. Niemand sollte mehr im Straßenverkehr sterben müssen oder schwer verletzt werden. Dies gelingt zum Beispiel durch Einführung und Senkung von Tempolimits oder den Abbau der Hürden für den Bau von Zebra- und geschützten Radstreifen.
- Beschleunigung des ÖPNV sowie Verbesserung der Barrierefreiheit, zum Beispiel durch Vorfahrt für Straßenbahnen oder stärkere Sanktionierung von Falschparken.
- Mehr Lebensqualität für Alle in der Stadt durch menschenfreundlichere Nutzung des öffentlichen Raums, zum Beispiel durch Erleichterungen Parkraum umzuwidmen.
- Mehr Handlungsspielraum für Kommunen die Verkehrswende selbst zu gestalten, etwa durch großzügige Öffnungsklauseln für Verkehrsversuche.
Einleitung
In Deutschland benötigen wir dringend eine Verkehrswende zugunsten von Fuß-, Rad- und öffentlichem Verkehr – dem Umweltverbund. Die Verkehrspolitik und -planung der der letzten Jahrzehnte haben uns vor allem „autogerechte Städte“ hinterlassen, sowie einen ländlichen Raum, der vom öffentlichen Verkehr kaum abgedeckt wird. Für die urbane Mobilität gilt: Ihre Zukunft liegt größtenteils jenseits von motorisiertem Individualverkehr. Ein wesentlicher Grund für die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte ist Deutschlands überkommenes Verkehrsrecht.
Straßenverkehrsrecht privilegiert einseitig den Autoverkehr
Unser heutiges Straßenbild ist das Abbild eines Verkehrsrechts, das einseitig den Autoverkehr bevorteilt. Die massive Benachteiligung zumeist schwächerer Verkehrsteilnehmer*innen nahm man billigend in Kauf. Kinder spielen nicht mehr auf der Straße, sondern wegen der vielen und zu schnellen Autos auf eingezäunten Spielplätzen. Für Fußgänger*innen sind Wartezeiten an Ampelkreuzungen oft sehr lang. Fußverkehrsfreundliche Zebrastreifen dürfen wegen rechtlicher Hürden oft nicht gebaut werden – vor allem ein Problem für ältere Menschen. Wer sich in Deutschland aufs Rad schwingt, begibt sich auf zumeist unsichere Fahrradwege – sofern diese überhaupt vorhanden sind. Auch Rollstuhlfahrer*innen und Eltern mit Kinderwagen leiden unter der Automobilisierung, wenn sie zum Beispiel zugeparkte oder verengte Gehwege beim Straße queren überwinden müssen. Menschen mit Behinderungen werden erst seit 1980 überhaupt im Verkehrsrecht erwähnt. Mit der Radfahrnovelle von 1997 wurden immerhin einige Einschränkungen für Fahrräder reduziert. Soziale und ökologische Belange finden im Verkehrsrecht jedoch bis heute kaum Berücksichtigung.
Automobilität in der Krise – eine Frage sozialer Gerechtigkeit
Dabei ist längst klar: Die massenhafte individuelle Automobilisierung ist nicht gerecht. Sie verursacht große Folgeschäden für Klima, Umwelt und Gesundheit, vor allem durch CO2-Austoß, Luftverschmutzung und Lärmbelastung sowie Flächenverbrauch und -versiegelung. Die entstehenden Kosten werden größtenteils auf die Gesamtgesellschaft abgewälzt. Zu leiden haben häufig diejenigen, die gar kein Auto besitzen (in den Metropolen immerhin 4 von 10 Haushalten). Die ökologische Debatte um die Zukunft des Autos ist untrennbar mit der Frage nach sozialer Gerechtigkeit verknüpft.
Lokale und globale Dimension
An den großen Straßen wohnen zumeist die Menschen, die sich nur noch dort die geringeren Mieten leisten können. Die unteren Einkommensschichten sind von Lärm und Abgasen häufig viel stärker betroffen als die oberen. Auf dem Land werden Menschen ohne Führerschein – vor allem Alte, Arme, Kranke, Kinder – mangels Alternativen von selbstbestimmter Mobilität nahezu ausgeschlossen.
Neben dieser lokalen Dimension gibt es die globale: Im Hinblick auf die Klimakrise trägt vor allem der Verkehrssektor des globalen Nordens wenig bis nichts zur notwendigen CO2-Reduktion bei. Als einziger Sektor kann in Deutschland der Verkehrssektor bisher keine CO2-Einsparungen vorweisen. Die Lasten des Klimawandels trägt hingegen vor allem der globale Süden. Solange dies weiterhin der Fall ist, lebt der Norden auf Kosten des Südens. Dieser Zustand ist durch nichts zu rechtfertigen und muss so schnell wie möglich beendet werden.
Je weniger Autos, desto besser funktionieren die Städte
Im Moment bestimmen weitgehend die Interessen großer Player wie Autoindustrie oder US-amerikanische Tech-Konzerne die Entwicklungen in der Verkehrspolitik. Wir brauchen stattdessen eine sozial-ökologische Verkehrswende, die Mobilität für alle ermöglicht, jedoch mit insgesamt weniger Verkehr. Dafür muss der öffentliche Nah- und Fernverkehr ausgebaut und für alle erschwinglich werden – bis hin zum Nulltarif. Aktive Mobilitätsformen (z.B. Fuß- und Radverkehr) müssen gefördert und die individuelle Automobilität in den Städten erheblich reduziert werden mit dem Ziel weitgehend autofreier Innenstädte. Wenn sehr viele Menschen täglich ähnliche Wege zurücklegen, wird es auch zukünftig am sinnvollsten sein, sie tun dies gemeinsam mit kollektiven Verkehrsmitteln, statt individuell unterwegs zu sein und sich im Stau gegenseitig zu blockieren. Deshalb helfen auch Elektroautos nur sehr bedingt. Ein neuer Antrieb führt nicht zu mehr Flächengerechtigkeit. Der begrenzte öffentliche Raum, den die Städte dringend für andere Nutzungsmöglichkeiten benötigen, kann nur durch eine deutliche Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs freigegeben werden.
ÖPNV-Ausbau im ländlichen Raum
Im ländlichen Raum gilt dies nur sehr eingeschränkt. Hier wird die individuelle Automobilität weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Sie muss zu leistbaren Bedingungen möglich bleiben. Trotzdem gilt es auch hier die Alternativen zu stärken; für alle, die nicht Auto fahren können oder wollen. Dafür muss der ÖPNV auch in der Fläche verdichtet und auch hier mittelfristig zum Nulltarif angeboten werden.
Bei der Verkehrswende müssen die großen Unterschiede zwischen städtischer und ländlicher Mobilität stets berücksichtigt werden. Es ist nicht sinnvoll, Konzepte, die in den Großstädten funktionieren, direkt auf den ländlichen Raum zu übertragen. Stattdessen müssen hier eigene Lösungsansätze entwickelt werden.
Umfassende sozial-ökologische Reform des Verkehrsrechts
Das veraltete Verkehrsrecht ist einer der großen Hemmschuhe der notwendigen sozial-ökologischen Verkehrswende auf unseren Straßen. Die Bundestagsfraktion DIE LINKE schlägt deshalb zweierlei vor:
- Einen grundlegenden Neustart des Straßenverkehrsrechtes: Die bestehende Straßenverkehrs-Ordnung soll durch eine Straßennutzungs-Ordnung ersetzt werden. Auch das Straßenverkehrsgesetz muss grundlegend erneuert werden. Das Ziel ist ein zukunftsweisender und gerechter Ausgleich der unterschiedlichen Verkehrsteilnehmenden nach einer sozial-ökologischen Richtschnur, statt einseitiger Privilegien für Autos. Dieser Neustart muss demokratisch gestaltet werden. Wir fordern deshalb die Einbeziehung aller relevanten Akteur*innen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft (siehe Kapitel 2).
- Erhebliche Verbesserungen im derzeitigen Verkehrsrecht. Wir weisen den Weg zu einer umfassenden Neuordnung, indem wir konkrete Schritte vorschlagen. In einer umfangreichen Sammlung machen wir Detailvorschläge, wie die rechtliche Situation des Umweltverbundes (Fuß- und Radverkehr sowie ÖPNV) gestärkt werden kann (siehe Kapitel 3). Die Länge dieser Sammlung macht deutlich, wie dringend notwendig ein grundlegender Neustart ist.
Mobilität für Alle
Die Fraktion DIE LINKE streitet für Mobilität für alle. Wir wollen, dass alle Menschen die Straßen nutzen können – unbedachte Kinder genauso wie seheingeschränkte Senior*innen und Menschen mit Behinderungen. Niemand sollte auf ein individuelles Auto angewiesen sein, auch nicht im ländlichen Raum.
Die Alternativen, der Umweltverbund aus Fuß-, Rad-, und öffentlichem Verkehr, müssen dementsprechend umfassend gestärkt und ausgebaut sowie kostengünstiger werden – bis hin zum Nulltarif im ÖPNV. In urbanen Zentren muss der Autoverkehr drastisch reduziert und der besetzte öffentliche Raum für die Menschen zurückgewonnen werden. Dies sollte Hand in Hand mit zeitgemäßen städtebaulichen Zielen erfolgen: Die Wohnraumkrise muss adressiert werden, die Entsiegelung von Flächen gleichzeitig eine wichtige Rolle für die Klimafolgenanpassung spielen.
Vision Zero: Verkehr ohne Tote oder Schwerverletzte
Ein weiteres Kernanliegen der Verkehrswende ist die Verbesserung der Verkehrssicherheit. Niemand sollte im Straßenverkehr schwer verletzt werden oder sterben. Dies kann gelingen! Jedoch nicht, indem gefährdete Fußgänger*innen und Radfahrer*innen eingeschränkt werden, sondern indem sie nicht weiter durch LKWs und PKWs gefährdet werden. Nur wenn sowohl die objektiven Sicherheitsbedingungen als auch das Sicherheitsgefühl für die aktiven Mobilitätsformen verbessert werden, steigen immer mehr Menschen auf Fuß und Fahrrad um.
Klima- und Umweltschutz, Lebensqualität und Gesundheit
Verzichten die Menschen vermehrt auf individuelle Automobilität, kann der Verkehrssektor künftig auch seinen im Pariser Klimaabkommen vereinbarten Beitrag zum Klimaschutz leisten.
Zusätzlich ist die Verkehrswende gesundheitsfördernd: Die Luftqualität nimmt zu, Verletzungen werden weniger und Menschen bleiben in Bewegung. Insgesamt schaffen wir so mehr Freiheit und Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmenden, ermöglichen Mobilität für alle und fördern Gesundheit, Lebensqualität und Umweltschutz.
Das heutige Verkehrsrecht ist nicht geeignet, die notwendige sozial-ökologische Verkehrswende voranzutreiben. Die vorgeschlagene umfassende Reformierung kann ihr jedoch einen entscheidenden Schub versetzen. Trotzdem ist klar, dass eine Änderung der rechtlichen Grundlage allein für eine Verkehrswende im Sinne der Menschen nicht ausreicht. Hier gilt es außerdem Investitionsmittel im großen Stile umzuverteilen, um den Umweltverbund zu stärken und vieles mehr. Dieses Positionspapier behandelt die rechtlichen Belange der Verkehrswende, andere Aspekte werden in weiteren Anträgen und Publikationen der Bundestagsfraktion DIE LINKE ausführlich dargestellt.
Die weiteren Kapitel des Positionspapiers können Sie hier in der Gesamtfassung als PDF herunterladen.