Linken-Außenpolitiker Gysi fordert die Regierung auf, in Israel zu vermitteln und dabei auch Verhandlungen mit der gemäßigteren palästinensischen Fatah zu führen. Antisemitische Proteste verurteilt er scharf. Interview: Timo Lehmann
SPIEGEL: Herr Gysi, Israels jüngste Annäherung an die arabische Welt und die Wahl des neuen US-Präsidenten hatten Hoffnung auf eine Entspannung des Nahostkonflikts genährt. Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet jetzt die Lage eskaliert?
Gregor Gysi: Es hat mit der Schwäche des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu zu tun. Dieser hat veranlasst, ein palästinensisches Viertel in Jerusalem zwangszuräumen. Dabei wurde das Viertel 1956 von der Uno mit Absicherung Jordaniens den Palästinensern zur Verfügung gestellt. Netanyahu pocht darauf, dass damals nicht die Grundbücher geändert wurden. Aber wo sollen die Menschen jetzt hin, die dort leben? Durch diese falsche Politik wird die Stimmung unter den Palästinensern angeheizt.
Sie haben Verständnis für die Raketenangriffe der Hamas?
Nein, selbstverständlich nicht. Die Angriffe der Hamas auf Israel sind klar völkerrechtswidrig. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Krieg ist, dann ist nur die Bombardierung militärischer, niemals ziviler Ziele gestattet. Die Hamas schießen jedoch Raketen einfach ins Land, ohne Rücksicht auf zivile Opfer. Ebenso ist es völkerrechtswidrig, wenn Israel ein Bürogebäude in Gaza bombardiert, in dem internationale Journalisten arbeiten und leben.
Die israelische Armee teilte mit, in dem von Ihnen angesprochenen Gebäude hätte die Hamas »militärische Ressourcen«. Zudem hat Israel zuvor die dortigen Menschen gewarnt vor dem Angriff…
… ja, es wurde gewarnt, weil dort internationale Presse sitzt. Bei Palästinensern geschieht das nicht, denn dann würden auch die Hamas-Kämpfer das Haus verlassen. Die Bombardierung eines solchen Bürogebäudes ist trotzdem nicht akzeptabel, und man kann auch bezweifeln, dass bei internationalen Journalisten »militärische Ressourcen« der Hamas lagern.
In der vergangenen Woche wiesen Sie auf die gemäßigtere Fatah hin, der Gruppe der Palästinenser im Westjordanland, die sich einen Machtkampf mit der Hamas liefert. Ihr Vowurf: Israel sei nicht auf Gesprächsangebote der Fatah eingegangen. Dabei hatte Netanyahu jahrelang Verhandlungen angeboten, und der führende Vertreter der Fatah, Mahmud Abbas, ist nicht drauf eingegangen.
Tatsächlich hatte auch Abbas einmal Gespräche angeboten. Ich hatte das sogar vermittelt. Bedingung von Abbas jedoch war, dass neben den Regierungen der USA und Israels auch Russland teilnimmt, also ein weiteres ständiges Mitglied des Uno-Sicherheitsrates. Darauf sind Israel und die USA, damals mit Donald Trump, nicht eingegangen, weil die Pläne zur Annexion zunächst nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den Vereinigten Arabische Emiraten und Israel von der israelischen Regierung aufgegeben wurden. Abbas sagte zu mir auch, er brauche ein Ziel für solche Gespräche mit der israelischen Regierung. Grundlage dafür kann jedenfalls nicht sein, wie viel Prozent des Westjordanlandes von Israel juristisch annektiert werden sollen.
Während die linke Opposition Netanyahu in Israel für die Angriffe auf Gaza kritisiert, wartet man vergeblich auf die Verurteilung der Hamas-Angriffe durch die Fatah. Finden Sie das richtig?
Ich verurteile die Angriffe der Hamas klar und deutlich, aber die Fatah tut es nicht, um Sympathien bei den Palästinenserinnen und Palästinensern nicht zu verlieren. Unabhängig davon müsste es auch im Interesse Israels liegen, wenn es unter den Palästinensern mehr Zustimmung für die Fatah gäbe und nicht für die Hamas.
Aber zuletzt hatte die Fatah Wahlen in den Palästinensergebieten verhindert, also im Westjordanland und im Gaza-Streifen. War das ein Fehler?
Es ist zu vermuten, dass die Hamas schon vor der Eskalation eine Mehrheit unter den Palästinensern gewonnen hatte. Das wäre nicht gut. Fatah und Hamas sind erfolglos, aber Hamas wirkt widerständiger. Meine Forderung an die westlichen Staaten ist: Wir müssen uns etwas einfallen lassen, wie wir die Fatah in den Palästinensergebieten so stärken, dass sie bei demokratischen Wahlen die Mehrheit erringt und nicht die Hamas. Die Politik Netanyahus stärkt indirekt die Hamas, und das weiß er auch.
In ganz Deutschland gab es am Wochenende Demonstrationen, bei denen Israelflaggen brannten und antisemitische Sprüche gerufen wurden. Wie finden Sie es, dass manche dieser Proteste sich als »links« verstehen?
Ich habe Verständnis für Demonstrationen, bei denen Menschen sagen, sie seien es leid und wollten endlich ihren eigenen Staat. Völlig inakzeptabel ist, diesen Unmut mit Antisemitismus zu verbinden. Wer antisemitische Sprüche ruft oder Israelflaggen anzündet, ist nicht links und kämpft nicht für die Zweistaatenlösung, sondern verhindert sie eher.