Die USA profitierten vom Krieg in der Ukraine, weil sie Gas und Rüstungsgüter nach Deutschland und Europa liefern könnten, sagte der Co-Vorsitzende der Linksfraktion, Dietmar Bartsch im Dlf. Dies sei kein Anti-Amerikanismus, sondern eine sachliche Feststellung. Dietmar Bartsch im Gespräch mit Johannes Kuhn
Johannes Kuhn: Der Bundestag hat das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen – oder die Sonderschulden – für die Bundeswehr beschlossen. Ihre Fraktion, Herr Bartsch, hat dagegen gestimmt und sagt, da gäbe es bessere Möglichkeiten. Was mich interessieren würde: Wie würde die Linke die Bundeswehr in diesen durchaus gefährlichen Zeiten aufstellen wollen?
Dietmar Bartsch: Das Hauptproblem der Bundeswehr ist in den letzten Jahren gar nicht die Finanzierung gewesen. Wir hatten relevante Steigerungsraten. Wir haben in dem aktuellen Haushalt 50,4 Milliarden für die Bundeswehr beschlossen. Das Hauptproblem war vielfach die Beschaffung. Die Linke sagt ganz klar, der grundgesetzliche Auftrag – die Landesverteidigung und die Bündnispflichten – der ist zu erfüllen. Und der ist auch mit deutlich geringeren Mitteln zu erfüllen. Das Problem der Bundeswehr ist, dass es eine Strategieveränderung zu Zeiten des Verteidigungsministers Thomas de Maizière gegeben hat, der die Bundeswehr orientiert hat, nicht mehr auf Landesverteidigung und Bündnispflichten, sondern auf Auslandseinsätze. Dieser strategische Fehler hat sehr, sehr viel „gekostet“. Aber es ist der falsche Weg, jetzt Milliarden um Milliarden in die Bundeswehr zu stecken.
Kuhn: Sie sind also für eine reine Verteidigungsarmee mit den jetzigen Mitteln oder vielleicht sogar noch weniger, weil Sie ja letztendlich die Senkung des Verteidigungshaushaltes anführen. Das würde aber natürlich auch de facto heißen, dass bestimmte Modernisierungen nicht passieren würden. Es würde keine neuen Kampfjets geben. Da müsste man mit den alten weiter fliegen. Also, das sind ja durchaus Defizite, die jetzt da sind, woher immer sie auch kommen.
Bartsch: Also, ich will da ausdrücklich widersprechen. Wenn die Linke sagt, wir wollen den grundgesetzlichen Auftrag der Bundeswehr erfüllt sehen, dann heißt das auch, dass man zunächst mal die sicherheitspolitischen Notwendigkeiten diskutiert. Das ist nicht passiert. Es ist mehr oder weniger über Nacht eine Entscheidung von Olaf Scholz getroffen worden: 100 Milliarden. Ich finde, wir brauchen genau diese Debatte. Wir brauchen danach verteidigungspolitische Richtlinien und dann finanzielle Entscheidungen. Wenn wir in den letzten Jahren 30 bis 40 Milliarden im Durchschnitt immer in die Bundeswehr gegeben haben und haben jetzt Flugzeuge, die nicht fliegen, Schiffe, die nicht schwimmen und Gewehre, die nicht schießen, dann muss doch etwas falsch gelaufen sein. Und da kann man eben noch mehr Geld … dann verschwendet man nur Steuermillionen. Und gerade in der jetzigen Situation, wo viele Menschen Angst haben, und zwar Angst auch angesichts der Inflationsrate, angesichts der Teuerung auf dem Energiesektor und bei Nahrungsmitteln. Die haben Angst, dass sie den Monat zu Ende kriegen. Ja, es gibt Angst auch vor Putin. Aber diese anderen Ängste, denen wird gar nicht begegnet oder viel zu wenig. Und hier wird in einer Nachtaktion „100 Milliarden“ entschieden.
Kuhn: Sie haben ja ein Parteiprogramm. Darin steht eine schrittweise Abrüstung der Bundeswehr und man möchte, dass Soldatinnen und Soldaten Jobs in der Zivilgesellschaft bekommen und die Liegenschaften der Bundeswehr umgenutzt werden. Ist das noch realistisch im Jahr 2022? Und ist das auch noch das Programm, das Sie weiterverfolgen werden?
Bartsch: Wir haben unbestritten eine Zeitenwende. Der Krieg Wladimir Putins, dieser verbrecherische Krieg, hat Europa, Deutschland verändert. Und es ist diese eine Herausforderung. Es sind aber auch die Herausforderungen des Klimawandels, der Pandemien, der schreienden sozialen Ungerechtigkeit in der Welt, die danach rufen, dass die Linke programmatisch und nicht aus einer aktuell entstandenen Situation heraus diskutiert, Entscheidungen trifft und damit politikfähiger wird. Wir sehen ja, dass in Afghanistan das ganze Engagement im Desaster geendet ist. Da sieht man, dass wir in manchen Positionen durchaus richtig gelegen haben. Aber ich bleibe dabei: Dieser Krieg hat ganz viel verändert. Und wir müssen diese Debatte offen und nach vorn führen, damit die Linke auch für die Menschen in unserem Land und darüber hinaus Antworten hat, die glaubwürdig sind und nicht sagt: Na ja, wir haben das ja schon immer gewusst und jede Aufrüstung … ja, ich bin ein Gegner von Aufrüstung. Ich finde, es müsste weltweit abgerüstet werden, angesichts der Pandemien, der Herausforderungen mit dem Klimawandel, der Ungerechtigkeit auf dieser Welt. Das wäre dringend notwendig. Aber im Moment sind wir weit davon weg.
Kuhn: Lassen Sie uns über die Waffenlieferungen an die Ukraine sprechen – die Lieferung schwerer Waffen aus Deutschland. Ihr Genosse Bodo Ramelow sagt, die Ukraine hat ein Recht auf Selbstverteidigung und sie hat ein Recht, sich Waffen zu besorgen auf dem internationalen Markt. Und daraus leitet er ab, wenn dieser internationale Markt Deutschland ist, dann sollte man dem keine Steine in den Weg legen. Ist das mehrheitsfähig in der Partei?
Bartsch: Also, dass die Ukraine ein Selbstverteidigungsrecht hat, das ist, glaube ich, völlig unbenommen. Das wäre ja verheerend auch für eine linke Partei zu sagen: Nö, das habt ihr nicht. Selbstverständlich hat das die Ukraine. Und selbstverständlich ist es auch so, dass die Ukraine sich Waffen besorgen kann. Da kann niemand etwas dagegen haben. Ich bin strikt dagegen, dass Deutschland mehr Waffen, schwerere Waffen in die Ukraine exportiert. Ich frage mich da: Was ist denn das Ziel einer solchen Operation? Ich höre jetzt immer mehr, auch im Deutschen Bundestag in dieser Woche, die Forderung, der Kanzler und andere müssten sagen, die Ukraine muss den Krieg gewinnen. Was heißt das, den Krieg gewinnen? Ich bin der Überzeugung, dass es keine militärische Lösung geben wird. Deswegen musss ein Waffenstillstand das oberste Ziel sein. Und ich hätte mir gewünscht, dass unsere Außenministerin sich wirklich als oberste Diplomatin versteht und nicht als oberste Verteidigungsministerin.
Kuhn: Russland ist in der Offensive. Dann nimmt Russland den Osten oder vielleicht sogar die Hälfte des Landes oder noch mehr ein. Und dann braucht es für Herrn Putin keine Diplomatie mehr. Also, dann ist Ihr Vorschlag von Diplomatie auch hinfällig. Denn dann bekommt Russland, was es möchte – und hat gar keinen Grund, sich an einen Verhandlungstisch zu setzen.
Bartsch: Am Ende des Tages wird sich Russland an einen Verhandlungstisch setzen müssen. Auch für Russland gibt es gar keine Alternative, selbst, wenn es jetzt militärische Erfolge geben sollte. Die Lieferung von Waffen und die Diskussion darum führt uns in Deutschland wirklich in die Irre. Seit Wochen wird darüber geredet. Es wird immer so getan, dass viele andere Länder ja unendlich viele schwere Waffen geliefert haben. Das ist aber gar nicht der Fall. Wir dürfen nicht unterschätzen, dass die Kriegsgefahr auch für Deutschland größer wird. Und da haben auch Menschen Angst. Und ich möchte … natürlich, niemand will das. Keiner will einen Dritten Weltkrieg. Keiner will, dass Atomwaffen eingesetzt werden. Und ich frage mich immer: Warum haben eigentlich die Vereinigten Staaten … nämlich manchmal habe ich das Gefühl, die Menschen sagen: Na, die liefern doch. Warum haben die eigentlich bisher noch keine schweren Waffen geliefert? Da gibt es Gründe für. Eines muss man ja auch ganz klar sagen: Wenn es eine Partei gibt, die in vielerlei Hinsicht eine Siegerin in diesem Krieg ist, dann ist es wahrhaftig nicht die Ukraine. Die leidet unter diesem Angriff. Dann ist es wahrhaftig nicht Russland, wo auch die Sanktionen wirken. Da ist es wahrhaftig nicht Europa. Aber die Vereinigten Staaten haben, dadurch, dass sie jetzt ihr Gas nach Europa und auch nach Deutschland exportieren werden, dass sie in Größenordnung Rüstungsgüter nach Europa, auch nach Deutschland exportieren würden, dass sie Europa in eine schwierige Situation gebracht haben, sind sie interessengeleitet. Natürlich Siegerinnen und Sieger. Und das ist kein Antiamerikanismus. Das ist eine sachliche Feststellung. Deswegen werbe ich auch immer dafür, dass Europa stärker werden muss, dass Europa Interessen definieren muss, und dass man daraus abgeleitet Politik entwickelt. Das ist das, was ich im Übrigen Angela Merkel vorwerfe, nicht, dass sie eine Entspannungspolitik betrieben und versucht hat.
Kuhn: Da höre ich jetzt raus, Sie haben mehr Vertrauen, dass Wladimir Putin verhandeln möchte als in die Westbindung der Bundesrepublik?
Bartsch: Das haben Sie dann völlig falsch rausgehört. Ausdrücklich ist es so, dass natürlich aktuell diese Westbindung ein Pfund ist. Aber ich sage klar, man muss alles unternehmen, dass man eine diplomatische Lösung hinbekommt. Ich glaube, dass da mehr getan werden muss. Das ist ja nicht so … wir erwecken manchmal den Eindruck, als wenn die ganze Welt gegen Putin steht. Das ist aber nicht der Fall. Und es ist auch nicht nur China und nicht nur Indien. Es sind viele arabische Staaten. Es ist vielfach Afrika. Es ist Südamerika. Es ist die Türkei. Es ist Israel. Also, wir tun manchmal so, dass das sehr einseitig ist. Und da steht jemand ganz allein gegen den Rest der Welt. Aus vielfachen unterschiedlichen Interessen sehen Länder das anders. Ich will ja nur, dass wir das zur Kenntnis nehmen, und dass wir in Deutschland in Offenheit reden über diesen Konflikt, der dort ist. Und um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Der Aggressor heißt Wladimir Putin. Er führt einen brutalen Angriffskrieg in der Ukraine. Da gibt es kein Missverständnis. Und trotzdem gehört zur Realität und zu Realismus immer dazu, dass man schauen muss, wie man aus diesem Konflikt herauskommt und wie man am Ende vielleicht auch die Chance einer Friedensordnung erhalten kann. Jetzt ist auf lange Zeit, natürlich auf Generationen sind die Beziehungen zu Russland nicht nur beladen, sondern kaum wieder zu normalisieren.
Kuhn: Es gab eine Umfrage im Auftrag der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Sie sicher auch kennen. Von denjenigen, die überlegen, die Linke zu wählen, es aber nicht tun, von denen geben 43 Prozent an, dass sie die Außenpolitik der Linken abschreckt. Was bedeutet das für Sie, wenn Sie darauf gucken, wie sich die Linke in den vergangenen Jahren zu Russland, aber auch Teile der Partei zu Ländern wie Venezuela oder Kuba positioniert haben?
Bartsch: Also, wenn die Außenpolitik jetzt reduziert wäre auf das Verhältnis zu Russland, Venezuela und zu Kuba, wäre das etwas kurios. Ich würde gerne auf zum Beispiel Venezuela eingehen, wo jetzt die Bundesrepublik mit Herrn Maduro redet über Lieferungen. Wenn ich mich recht entsinne, haben wir eigentlich Herrn Guaidó anerkannt. Darüber spricht nur niemand. Allerdings wird darüber gesprochen, wie wir aus Venezuela jetzt Erdöl nach Deutschland bekommen. Das ist teilweise eine heuchlerische Politik. Und was Russland betrifft, kann ich auch nicht nur auf Frank-Walter Steinmeier, Manuela Schwesig und viele andere – ich finde Angela Merkel oder auch Herrn Kretschmer aus Sachsen – verweisen. Ich finde weiterhin, dass die Grundidee einer Entspannungspolitik vernünftig war. Linke Außenpolitik muss andere Fragen stellen.
Wir wollen in System kollektiver Sicherheit in Europa unter Einschluss Russlands. Das ist jetzt eine weit in die Utopie fallende Vision. Aber wie können wir denn Sicherheitssysteme entwickeln aus einer linken Sicht? Diese Umfrage ist natürlich erstens angesichts des Ukraine-Konflikts zustande gekommen, wo aus der Linken sehr unterschiedliche Akzente zu hören waren, insbesondere nach der Rede, die Olaf Scholz gehalten hat, aber auch nach der aus meiner Sicht mehr oder weniger verheerenden Kommunikation nach der Afghanistan-Abstimmung. In einem Konflikt, wo die Linke 20 Jahre die richtige Position gehabt hat, die dann bewiesen worden ist, haben wir genau am Ende, kurz vor der Bundestagswahl, letztlich insoweit versagt, weil jeder meinte, das zu sagen, was er für richtig hielt. Und da wurde auch mit der Partei ein Stück weit gespielt. Und das hat uns im Übrigen auch zu dem Ergebnis gebracht. Das ist mit Sicherheit einer der Faktoren.
Kuhn: Bevor wir nach vorne blicken, lassen Sie uns noch mal kurz zurückblicken. Vor ein paar Tagen haben Linken-Mitglieder um Sahra Wagenknecht einen Aufruf für eine populäre Linke veröffentlicht. Darin warnen sie vor dem, ich zitiere „opportunistischen Streben nach Mitregieren um den Preis der Aufgabe linker Ziele“. Fühlen Sie sich, der ja Spitzenkandidat im letzten Bundestagswahlkampf war, hier angesprochen? Denn Sie haben ja tatsächlich sehr stark auf Rot-Grün-Rot gesetzt, obwohl da schon relativ bald und spätestens nach dem Afghanistan-Votum ja keine Gegenliebe mehr von den Sozialdemokraten und Grünen kam.
Bartsch: Na ja, also, ich fühle mich da nur begrenzt angesprochen. Ich bin grundsätzlich kein Freund von den vielen Aufrufen, die derzeit auch in der Linken kursieren. Ich finde, dass wir im Bundestagswahlkampf – wegen meiner kann ich das auch selbstkritisch sagen – viel zu wenig auf Eigenständigkeit gesetzt haben. Dass wir in der Öffentlichkeit dann Signale ausgesandt haben, also, es gibt diejenigen, die eine Koalition vorbereiten, das fand ich gravierend falsch. Ich habe das intern auch gesagt. Aber in einem Wahlkampf führt man keine Debatten untereinander. Das hat ja auch weitgehend geklappt. Aber das war aus meiner Sicht ein grandioser Fehler. Eigenständigkeit und Erfolg sind Voraussetzung. Vor der Kür kommt immer die Pflicht. Und wir haben die Pflicht vernachlässigt. Denn Papiere zu schreiben und darüber zu reden, wie man zusammenkommt und irgendwelche Gruppen zu bilden, das war meines Erachtens wirklich in dieser Form falsch. Das hat sich auch überhaupt nicht bewährt. Und deswegen ist diese Kritik … diese Kritik ist ja insoweit berechtigt. Ich will nur auch da ganz sachlich festhalten, dass da, wo die Linke die Möglichkeit hat, in Regierungsverantwortung zu gehen, sie das sehr wohl geprüft hat. Und sie hat an manchen Stellen ja und an anderen nein gesagt. Und wir regieren jetzt in vier Bundesländern. Die Ergebnisse in den Bundesländern sind sehenswert. Vieles kann man zeigen. Wir gehen damit nur viel zu defensiv um.
Kuhn: Wie Sie es gerade beschreiben, Sie betonen die Regierungsverantwortung in den Ländern. Gleichzeitig sprechen die Wahlergebnisse, speziell in Westdeutschland, natürlich eine ganz andere Sprache bei der Bundestagswahl. Ist es wirklich nur eine Wahlergebnis-Grippe oder reden wir nicht eher davon, von einem Patienten „Linke“, der schon auf der Intensivstation ist?
Bartsch: Also, es ist nicht nur eine Wahlergebnis-Grippe. Das muss man ganz klar sagen. Die drei Länder, wo wir jetzt Wahlen hatten, mit Ausnahme des Saarlandes, wo es spezifische Ursachen gab und wo natürlich der Austritt Oskar Lafontaines kurz vor der Wahl uns den Todesstoß, den parlamentarischen, versetzt hat, waren ansonsten die Ausgangspositionen so, dass die wahlkämpfenden Länder kaum eine Chance hatten. Und ich sage mal, ich nehme jetzt mal Nordrhein-Westfalen, wo ich mich auch sehr engagiert habe. Dort gab es einen engagierten Wahlkampf. Da gab es eine kluge Programmatik. Aber da ist so, dass wenn auf der Bundesebene wir in einem Bereich vier, fünf Prozent sind, dann haben wir in westdeutschen Bundesländern schlicht keine Chance, in denen wir nicht schon im Parlament sind. Deswegen ist die Voraussetzung, dass der Patient „Linke“, von dem Sie sprachen, der muss wieder auf die Beine kommen. Und diese Aufgabe steht. Das ist im Moment nicht naturgegeben, dass wir wieder auf die Beine kommen. Ich habe in meiner Geschichte in der Partei einige Krisen miterleben dürfen. Ich habe die Erfahrung aus den 90er Jahren. Wir müssen einige Grundfragen nicht nur stellen, sondern auch beantworten. Die programmatische habe ich genannt. Es geht aber auch um strukturelle Fragen. Es geht darum, wie wir die vergleichsweise große Diskrepanz, die wir haben … ich habe von vier Regierungsländern gesprochen. Darunter ein Ministerpräsident in Thüringen. Auf der anderen Seite eben Länder, wo wir bei der Landtagswahl unter zwei Prozent waren. Auch im Übrigen teilweise selbstverschuldet, weil die Neigung bei Wahlergebnissen, das immer nur woanders hinzuschieben, die ist bei uns sehr ausgeprägt.
Kuhn: Sie haben es gesagt: Der anstehende Bundesparteitag soll einige Fragen klären, personell, aber auch inhaltlich. Die Partei war ja sehr lange recht einfach in ihrer Mission zu definieren. Die PDS als SED-Nachfolgepartei als Vertretung der Ostinteressen. Die Linke als Gegenbewegung zu Hartz IV. Ich weiß, Sie sagen, die Linke ist die Stimme der sozialen Gerechtigkeit. Aber was heißt das 2022? Wo ist die Mission, bei der die Wähler nur ganz kurz nachdenken müssen und dann sagen, ja, klar, Linke wollen das?
Bartsch: Also, ich glaube, dass wir da, was die aktuelle Politik betrifft, ein wahnsinnig breites Betätigungsfeld haben. Und das war nicht nur die aktuelle Abstimmung zu dem Sondervermögen der Bundeswehr. Man muss sich die Situation im Land anschauen, angesichts der gigantischen Inflation, angesichts der Entscheidungen, die getroffen oder getroffen werden. Schauen Sie sich das Energiegeld an. Schauen Sie sich das Klimageld an, was Hubertus Heil vorgeschlagen hat, was vernünftig ist und das sofort kassiert worden ist. Angesichts der Dinge, die sich entwickeln werden und wir werden gravierende Einschnitte haben, wenn wirklich Christian Lindner ernsthaft meint, dass die Schuldenbremse im nächsten Jahr wieder gilt. Da ist eine linke Partei im Deutschen Bundestag dringend notwendig, um überhaupt zu artikulieren, was notwendig ist. Und wir müssen das Thema, das Sie zurecht benannt haben, die Linke als soziale Opposition im Bundestag, die moderne Gerechtigkeitspartei, unter einem anderen Gesichtspunkt als vielleicht im vorigen Jahrhundert betrachten. Digitalisierung ist eine der größten Herausforderungen.
Was heißt das aus dem Blickpunkt sozial gleicher Chancen, gleicher Startbedingungen für Kinder in den Schulen? Nicht nur beim Breitbandausbau, sondern bei Endgeräten und vielem anderen mehr. Digitalisierung ist eine tiefsoziale Frage. Was heißt das angesichts der Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt? Die ökologische Frage ist eine zutiefst soziale Frage. Das sind so gigantische Aufgaben. Und das schreibt förmlich nach einer linken Partei, dass wir Platz für eine Linke in Deutschland reichlich haben. Der wird im Moment nicht gefüllt, weil natürlich unsere politischen Konkurrenten, aber leider wir eben auch, einen Beitrag geleistet haben, dass man genau das dieser Linken nicht zutraut. Und Sie haben einen Punkt angesprochen, der mir weiterhin wichtig ist. Ja, die Linke muss immer in besonderer Weise auch Ostinteressen wahrnehmen. Das wird auch noch weiterhin so sein müssen. Ostinteressen-Wahrnahme ist aber auch etwas anderes als etwa ein nostalgisches Hinterherweinen über eine vergangene Zeit. Sondern das ist darum zu kämpfen, dass es wirklich Gleichstellung bei Investitionsentscheidungen, bei Personalentscheidungen … man muss sich nur angucken, wie die Bundesregierung bei Staatssekretären zusammengesetzt ist und, und, und. Also, ich sehe ein breites Feld. Es wird darauf ankommen, dass wir als Formation in der Lage sind, diese Aufgaben zu erfüllen, zumindest teilweise.
Kuhn: Beim Parteitag in Erfurt wird auch der Parteivorstand komplett neu gewählt. Sie werden als berufsmäßige Sphinx jetzt sicherlich nichts zu einzelnen Kandidaturen sagen. Aber vielleicht mal so gefragt: Inwiefern ist denn ein vollständiger Neustart notwendig? Denn Janine Wissler, die verbliebene Vorsitzende, hat ja durchaus einige herbe Wahlschlappen zu verantworten.
Bartsch: Ich bin ein Gegner davon, eine Wahlschlappe etwa jetzt Janine Wissler anzuheften. Also, wenn es so einfach wäre, Janine Wissler wäre jetzt die Verantwortliche für Nordrhein-Westfalen und für Schleswig-Holstein und das Saarland, das ist absurd. Wenn, dann könnte man eher sagen, wenn eine Woche vor einer Wahl eine andere Parteivorsitzende zurücktritt, das ist zumindest nicht wahlunterstützend. Aber das alles wäre zu einfach. Die Ursachen sind tieferliegend. Und ich glaube, dass wir nur gemeinsam, und zwar auch mit den Kandidatinnen und Kandidaten, die jetzt für den Parteivorsitz antreten, aber dann auch in Zusammenarbeit von neuer Parteiführung und Fraktion agieren müssen. Und eines ist doch ganz klar. Ich habe in meiner Fraktion schon jetzt vergleichsweise viele ehemalige Parteivorsitzende. Also, ich habe Gesine Lötzsch und Klaus Ernst. Ich habe Gregor Gysi. Ich habe Bernd Riexinger. Ich habe Susanne Hennig-Wellsow. Also, die alle spielen in der Politik eine Rolle und werden weiter eine Rolle spielen. Es gibt bei uns aktuell keine Person, die all diese Wünsche in sich vereinbaren kann und die Lösung anbietet. Die gibt es nicht. Das sind alles gute Kandidaten, aber niemand ist jetzt die Lösung. Das geht nur in einem gemeinsamen Prozess. Aber klar ist auch – und das meine ich schon so – wir brauchen in der Partei einen Neustart. Und der liegt nicht zuallererst jetzt bei zwei Vorsitzenden, die gewählt werden, sondern dazu ist mehr erforderlich. Ich glaube, dass es vor allen Dingen darum gehen muss, dass wir wieder Partei sind, dass nicht jeder Landesverband, jeder Kreisverband im Kern allein entscheidet. Sondern es muss darum gehen, dass wir gemeinsam, vor allen Dingen nicht auf dem Schiffsdeck, sondern im Maschinenraum ordentlich anpacken. Das ist möglich, aber das ist vor allen Dingen harte Arbeit und weniger reden.
Kuhn: Am Ende möchte ich noch kurz über Ihre Zukunft sprechen und einen Tweet des Kollegen Markus Decker vom Redaktionsnetzwerk Deutschland zitieren, weil er so ein bisschen auch die parteiinterne Kritik an Ihnen gut trifft. Ich zitiere: „Kaum jemand trägt in der Linken so lange Führungsverantwortung wie Dietmar Bartsch. Wie er nun wieder so dasteht mit der Attitüde eines Filialleiters der Kreissparkasse Ostvorpommern und den Eindruck erweckt, mit dieser Krise nichts zu tun zu haben, das ist auch schon wieder lustig.“ Finden Sie sich da wieder?
Bartsch: Finde ich mich überhaupt nicht wieder. Ich finde auch, dass Herr Decker dort ein Maß an Arroganz zeigt, das einem Journalisten so nicht zusteht. Ich finde auch, dass man bei seinen Tweets viel vorsichtiger sein sollte.
Selbstverständlich ist doch völlig unbestritten und habe ich auch immer deutlich gesagt: Alle, die in Führungsverantwortung sind, ich eingeschlossen, trägt natürlich Verantwortung für diese Situation. Das ist doch völlig unbestritten. Ich werbe trotzdem dafür, dass man dann etwas genauer hinschaut. Wer verantwortet was, an welcher Stelle? Und ich werfe mir auch heute vor, bei der Bundestagswahl nicht viel deutlicher und klarer akzentuiert zu haben, was notwendig wäre. Aber auch aus der Erfahrung, dass ich selbst Wahlen geleitet habe und damals dafür gesorgt habe, dass auch Spitzenkandidaten, wie auch Oskar Lafontaine oder Gregor Gysi, nicht über eine Wahlkampfführung entschieden haben. Die haben mitentschieden, waren Teil eines Teams. Aber die Entscheidung hat ein Wahlkampfleiter, der ich zumindest teilweise war, getroffen. Und ich habe genau dieses auch jetzt letztlich – ich sage mal – zugelassen, dass die Entscheidungen so getroffen worden sind, wie sie getroffen worden sind. Und ich glaube, dass wir einige strategische Fehler gemacht haben. Über einen habe ich gesprochen. Das war die Fixierung auf ein Mitte-links-Bündnis und nicht auf Eigenständigkeit. Also, Herr Decker hat, seit er die Linke nicht mehr macht, da eine gewisse Komponente entwickelt. Aber das sollte nie Maßstab für Politikerinnen und Politiker sein, wenn Journalisten wirklich meinen, mit privaten Tweets Einfluss nehmen zu wollen.
Kuhn: Aber im Kern ist es natürlich eine Kritik daran, dass Sie eigentlich die Gelegenheit zum Generationswechsel an der Fraktionsspitze nach diesem sehr schlechten Wahlergebnis verpasst haben. Um es mal zu konkretisieren. Werden Sie zur Halbzeit der Legislaturperiode ins Auge fassen, da von sich aus einen Generationenwechsel einzuleiten? Oder sagen Sie, den Bartsch, den gibt es nur für vier Jahre?
Bartsch: Wissen Sie, den wird es auch noch in 50 und 100 Jahren geben, um das ironisch zu beantworten. Ehrlich gesagt, nach der Bundestagswahl stellt man sich selbstverständlich eine solche Frage. Und die habe ich mir auch gestellt. Und hätten wir ein herausragendes Wahlergebnis gehabt, wäre ich wahrscheinlich zu der Entscheidung gekommen und hätte gesagt: Das war es jetzt an dieser Position. Es ist nicht so, dass ich gesagt habe, ich setze das jetzt durch. Sondern ich bin in der Fraktion mit vergleichsweise überzeugendem Wahlergebnis gewählt worden. Wahrscheinlich aus dem Grund, dass niemand der Auffassung war, dass jemand anders das in dieser Phase, in dieser Situation besser kann. Und jetzt sind wir ein halbes Jahr im Amt. Und ich glaube, die Herausforderungen sind aktuell sehr groß.
Und ich bin der festen Überzeugung, dass wir diese Herausforderungen nur bewältigen werden, wenn wir das gemeinsam machen. Das ist meine Position. Und, wenn dann die Halbzeit der Legislaturperiode ist, das ist noch lange hin. Entscheidungen trifft man dann, wenn sie anstehen. Jetzt stehen in dieser Frage keine Entscheidungen an. Wir haben einen Parteitag. Dieser Parteitag wird wichtige Entscheidungen für uns treffen. Und ich glaube, dass es dann darauf ankommt, dass jeder seine Aufgaben wahrnimmt und wir vor allen Dingen eine Verantwortung haben, die Linke wieder erfolgreich zu machen. Und da sollte niemand an irgendetwas kleben. Ich sowieso nicht. Dafür bin ich auch viel zu lange dabei. Es ist nur so: Erstens bestimmen das nicht Menschen von außen. Und zweitens ist die aktuelle Situation eher ganz anders. Es ist ein vergleichsweise starker Druck. Mach‘ bitte das, mach‘ bitte das. Steh bitte dort vorn. Ich nehme dieser Herausforderung an. Ich bin nächste Woche ordentlich in Sachsen unterwegs, wo Kommunal- und Landratswahlen sind. Das sollte man tun. Und, wenn es so ist, dass bessere, sinnvollere Entscheidungen auch personell getroffen werden, dann trifft man die.