Es sind nicht nur die Ärmsten, denen die Preiskrise zu schaffen macht: Rentnerinnen und Rentner, Normalverdienende, Familien – sie alle leiden unter den explodierenden Ausgaben für Lebensmittel, Sprit, Energie, Wohnen. Was sich für viele Politikerinnen und Politiker nur als abstrakte Statistik darstellt, ist für viele Menschen konkrete Realität. Wir haben mit einem von ihnen gesprochen.
Der Radius, in dem sich der 67-jährige Rüdiger Simmel bewegt, wird kleiner. Das liegt nicht daran, dass er sich nichts mehr leisten kann, seit Miete und Energiepreise im vergangenen Jahr um 300 Euro gestiegen sind. Es liegt auch nicht an den hohen Lebensmittelpreisen. Es liegt an seinen Augen. Nachdem sich im vergangenen Sommer seine Netzhaut ablöste, kann er auf beiden Augen kaum noch sehen.
Wenn er durch seinen Stadtteil Linden in Hannover läuft, dann orientiert er sich an Pollern, die den Bürgersteig vom Fahrradweg trennen. Die kann er gut sehen, die geben ihm Sicherheit. Die Arme streckt er leicht vor, um nicht aufzufallen. Manchmal schwankt er beim Laufen ein klitzekleines bisschen. Das liegt daran, dass die Augen ein Teil des Gleichgewichtsorgans sind. Weil sie nicht so funktionieren, wie sie sollen, gerät Rüdigers Welt dann für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Tritt.
Wenn Rüdigers Frau Simone in zwei Jahren in Rente gehen wird, dann wird auch der gemeinsame Haushalt der beiden aus dem Tritt geraten. »Dann sind wir bei 1.800 Euro brutto – zusammen«, rechnet er vor. Bei über 1.000 Euro Miete für die Wohnung bleibt da nicht mehr viel zum Leben übrig. Arm sind sie damit zwar noch nicht, aber eben auch nicht weit genug davon entfernt.
Einen Nebenjob schafft Rüdiger mit seinen Augen nicht. Dabei würde ihm das helfen, sobald auch seine Frau in Rente geht. Als er auf seine Lebensgeschichte zu sprechen kommt, erzählt er: »Wir waren arm, wir sind arm, wir werden immer arm bleiben – das ist der Stern, unter dem ich aufgewachsen bin. Das hat nichts damit zu tun, dass ich kein Geld in der Tasche habe, sondern damit, welcher Klasse ich angehöre.«