Murat Kurnaz ist ein Folteropfer. Der Außenminister und vormalige Kanzleramtschef trägt dafür Mitverantwortung. Ein Gespräch mit Wolfgang Neskovic
Wolfgang Neskovic, früherer Richter am Bundesgerichtshof, ist Obmann der Linksfraktion im BND-UntersuchungsausschußHerr Neskovic, ist nach der Vernehmung von Frank-Walter Steinmeier im Untersuchungsausschuß erstmal die Luft raus?
Nein, weil es nicht darum ging oder geht, irgendeinen Minister aus dem Amt zu kippen, sondern aufzuklären, ob sich die damalige Bundesregierung von der menschenrechts- und rechtsstaatswidrigen Verfolgungspraxis der Amerikaner bei der Terrorbekämpfung hat anstecken lassen.
Es hat sich gezeigt, daß Steinmeier und andere sowohl den Menschen Murat Kurnaz als auch den Rechtsstaat im Stich gelassen haben. Es gab keine Abwägung zwischen den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik und den schutzwürdigen Interessen von Herrn Kurnaz. Herr Steinmeier und andere, die in der Präsidentenrunde saßen, haben die Interessen des Menschen Kurnaz unberücksichtigt gelassen, weil sie sich in ein Staatsnotstandsdenken hineinsteigerten, bei dem der einzelne Mensch bedeutungslos wird.
Kommen Sie nach Steinmeiers Aussage zu einer Neubewertung der Angelegenheit?
Nein, Herr Steinmeier hat nichts vorgetragen, was ihn entlastet. Es gab gegen Murat Kurnaz keine tragfähigen Sicherheitsbedenken. Der Generalbundesanwalt hat in der Frage der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung nicht einmal einen Anfangsverdacht gesehen, auch die Bremer Staatsanwaltschaft hat alle Ermittlungen eingestellt. Die Entscheidung der Präsidentenrunde im Herbst 2002, Kurnaz nicht wieder einreisen zu lassen, war klar rechtswidrig. Das hat auch das Verwaltungsgericht Bremen bestätigt.
Glauben Sie, die Sicherheitsbedenken, die Schily, Steinmeier, Hanning und Uhrlau geltend gemacht machen, waren nur vorgeschoben?
Ja. Die Einreisesperre für Murat Kurnaz war rein politisch motiviert. Wäre er im Herbst 2002 zurückgekehrt, hätte er davon berichtet, daß deutsche KSK-Soldaten in Kandahar in Afghanistan Wachdienste für die US-Amerikaner übernehmen, und er hätte von Guantánamo berichtet. Der rot-grünen Bundesregierung hätte das - insbesondere vor dem Hintergrund des gespannten Verhältnisses zu den USA wegen der Irak-Frage - überhaupt nicht ins Konzept gepaßt. Außerdem wollte man, nach dem nachrichtendienstlichen Desaster mit der »Hamburger Zelle« der Attentäter vom 11. September 2001, nun ganz sichergehen und um jeden Preis eine »Bremer Zelle« verhindern - selbst um den Preis der Menschenrechte von Murat Kurnaz.
Vielleicht hatte die Regierung auch einfach Angst vor schlechter Presse.
Die schlichte Angst vor negativen Schlagzeilen war sicherlich ein weiteres Motiv. Es hätte der rot-grünen Regierung bestimmt nicht gefallen, wenn die Bild-Zeitung geschrieben hätte, Rot-Grün holt den Bremer Taliban ins Land.
Steinmeier hat nun behauptet, daß Kurnaz 2006 freikam, hatte nichts mit der Änderung der deutschen Haltung, sondern mit einer »180-Grad-Kehrtwendung« der amerikanischen Haltung zum Lager Guantánamo zu tun.
Das halte ich nicht für glaubwürdig. Es widerspricht auch den Aussagen anderer Zeugen. Die Amerikaner haben seit 2002 immer wieder Häftlinge aus Guantánamo entlassen, von deren Ungefährlichkeit sie überzeugt waren und für die sie eine Rücknahmegarantie hatten.
Steinmeier hat ja eingeräumt, daß die US-Amerikaner 2002 signalisiert hätten, daß demnächst eine größere Gruppe von Gefangenen freikäme - nur für Kurnaz hätte das leider keine Folgen gehabt. Die deutschen Bundesregierung trage dafür aber keine Verantwortung.
Immerhin haben sie in dieser Situation, als sie in Berlin befürchteten, Kurnaz könne demnächst freikommen, die Einreisesperre gegen ihn verhängt und den USA mitgeteilt, daß dieser Mann aus Sicherheitsgründen in Deutschland unerwünscht sei. Das war nicht einmal mit der Bitte verbunden, die Amerikaner mögen Kurnaz in ein anderes Land wie die Türkei freilassen. Warum dies nicht getan wurde, ist noch nicht geklärt. Herr Steinmeier hat diese Frage jedenfalls nicht beantwortet.
Muß Frank-Walter Steinmeier zurücktreten?
Ja. Murat Kurnaz wurde unter falschen Anschuldigungen verschleppt, eingesperrt und mißhandelt. Murat Kurnaz ist ein Folteropfer. Die Hauptverantwortung dafür tragen natürlich die Amerikaner, aber Herr Steinmeier und andere tragen eine Mitverantwortung, weil sie sich nicht um seine Freilassung bemüht haben.
Interview: Jörn Boewe
junge Welt, 31. März 20077