Rostock-Lichtenhagen: »Entweder gilt die Menschenwürde uneingeschränkt oder gar nicht«
Zum 30. Jahrestag der rassistischen Pogrome von Rostock-Lichtenhagen hat Petra Pau, Bundestagsvizepräsidentin und Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE, mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung darüber gesprochen, warum die Situation damals so eskalierte und was wir heute tun müssen, damit sich solche Ausschreitungen nicht wiederholen.
Das Interview führten sie vor dem Kunstwerk "Grundgesetz 49" am Deutschen Bundestag, auf dessen 19 Glasscheiben die Artikel 1- 19 des deutschen Grundgesetzes in seiner Originalfassung von 1949 eingraviert sind.
"Tagelang wurde damals die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerberinnen und Asylbewerber belagert, wurden die Menschen, die dort auf die Bearbeitung ihres Anliegens warteten, bedroht, beleidigt, beschimpft und später Vietnamesinnen und Vietnamesen, Vertragsarbeiter, die in einem anliegenden Wohnheim lebten, in ihrem Haus tatsächlich gejagt", berichtet Petra Pau. Bekannte Nazis waren aus dem ganzen Land angereist, warfen mit Steinen und Brandsätzen, aber auch viele Anwohnerinnen und Anwohner unterstützen die Ausschreitungen. "Es ist ein Wunder, dass kein Mensch dabei ermordet wurde."
Pau kritisiert auch das viel zu späte Einschreiten der Behörden: "Das macht es auch so verbrecherisch, was da eigentlich passiert ist. Sowohl in Rostock-Lichtenhagen, als auch später in Hoyerswerda, in Mölln und anderen Städten war die Ignoranz der politisch Verantwortlichen sehr deutlich und in diesem Fall wahrscheinlich auch die Ignoranz, dass die Polizei den Auftrag hat, alle Menschen entsprechend Artikel 1 des Grundgesetzes zu schützen."
Statt sich sofort an die Seite der Asylbewerberinnen und Asylbewerber zu stellen, begann eine "unsägliche Debatte", sagt Pau. "Man machte sich vor allem Sorgen um das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland, um wirtschaftliche Investitionen und kam dann auf eine Lösung, auf die wäre ich niemals gekommen, nämlich das Grundgesetz tatsächlich zu schleifen und das Recht auf Asyl zu streichen. Auch deshalb sage ich, bei allen aktuellen Debatten und Auseinandersetzungen sollten wir uns genau diesem Thema wieder zuwenden. Entweder gilt die Menschenwürde uneingeschränkt oder gar nicht. Nur, wenn wir genau das im Alltag berücksichtigen, wird es möglich sein, solche Dinge zu verhindern."