Acht Zeugen, zweiundzwanzig Vernehmungsstunden und einige neue Erkenntnisse zur Suche nach dem Trio durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), zur Ermittlungsarbeit des Bundeskriminalamts (BKA) nach der Selbstenttarnung des NSU und zu den Tatorten in NRW: Das ist die Bilanz der letzten beiden Wochen im NSU-Untersuchungsausschuss.
Am 24. November war mit dem Kriminaloberrat Axel Kühn einer der führenden BKA-Ermittler im NSU-Komplex als Zeuge im Ausschuss. Seit November 2011 war Kühn in die Ermittlungen an zentraler Stelle einbezogen und konnte zu nahezu allen Schattierungen des Falls befragt werden. Aus LINKER Sicht war dabei von besonderem Interesse, wie das BKA mit den zahlreichen im Laufe des Falles auftauchenden V-Leuten des Verfassungsschutzes im Umfeld des Trios umgegangen ist. In den Akten im Zusammenhang mit V-Leute fällt immer wieder auf, dass die Ermittlungen in diesem Bereich scheinbar mit angezogener Handbremse geführt wurden. Bei Ralf Marschner, der nach Zeugenaussagen Mundlos und Zschäpe in seinen Geschäften beschäftigt haben soll, werden als entscheidungsrelevant für weitere Maßnahmen vor allem Aussagen gewertet, die diesen Beobachtungen entgegenstehen. Dennoch ging auch der Zeugen Kühn davon aus, dass Marschner die Ermittler "stumpf angelogen" hat. Im Fall des V-Mannes der LfV NRW, Johann Helfer, der zu einem bestimmten Zeitpunkt eine frappierende Ähnlichkeit zum Phantombild des Bombenlegers in der Probsteigasse im Jahr 2000 in Köln hatte, wurde nicht einmal eine Vernehmung von Helfer durchgeführt, geschweige denn die Frage nach einem Alibi für den Tattag gestellt. Von Seiten des Generalbundesanwalts (GBA) gab es die Anweisung, nicht weiter in Richtung Helfer zu ermitteln. Und schließlich findet sich in den Akten eine Besprechung zum V-Mann des LfV Brandenburg, "Piatto" alias Carsten Szczepanski, in der dem BKA von Seiten des GBA und BfV die Leviten gelesen werden. Szczepanski steht im Verdacht, über Jan Werner Waffen für das Trio besorgt zu haben. Sinn der Besprechung war es offenbar, diese Spur des BKA abzuräumen und den Ermittlern ein Stoppschild zu zeigen. Warum das BfV an dieser Besprechung beteiligt war, wo es doch um einen V-Mann des LfV Brandenburg ging, konnte nicht geklärt werden.
Erschüttert über Aktenreste
Der Zeuge Egevist war von 1997 bis 2003 leitend in der Abteilung Rechtsextremismus des BfV beschäftigt und damals mit der Suche nach dem Trio befasst. Die vom BfV unterstützten Maßnahmen zwischen 1998 und 2001, die so genannte "Operation Drilling", war eines der Themen mit diesem Zeugen. Laut Egevist wurde das Trio bereits damals innerhalb der Abteilung im Referat "Terrorismus" behandelt. Grund dafür war der Fund der Rohrbomben in der Garage in Jena. Die Zugangslage des Amtes in Thüringen sei dünn gewesen, was sich jedoch mit der Operation Rennsteig (Anwerbung von V-Leuten im Umfeld des Thüringer Heimatschutzes) ändern sollte. Dennoch habe es keinerlei Meldungen zum abgetauchten Trio gegeben, was für das BfV jedoch kein Grund war, die Qualität der Quellen in Frage zu stellen.
Erschüttert zeigte sich der Zeuge über die nur noch rudimentär vorhandene Akte des V-Mannes "Tarif", einer Quelle des BfV die im Zusammenhang der Schredderaktion im Amt am 11. November 2011 vernichtet wurden. Der Referatsleiter Lothar Lingen hatte in einer Vernehmung beim GBA eingeräumt, die Akten vernichtet zu haben, weil er nicht wollte, dass öffentlich wird, wie viele Quellen das BfV rund um das Trio hatte. "Tarif" gehört zu diesen Quellen. Laut Bundesregierung sei die vernichtete "Tarif"-Akte zum größten Teil rekonstruiert und dem Ausschuss vorgelegt worden. Die Aussage von Egevist stellte diese "weitgehende" Rekonstruktion massiv in Frage, vom BfV wurde ihr jedoch eine Woche später unter Angaben von Prozentzahlen widersprochen. Unstrittig bleibt, dass Teile der Akte nicht mehr vorhanden sind. Auch in der Sitzung am 1. Dezember wurde die Frage gestellt, wo denn die Motivation für das Löschen gelegen haben solle, wenn der Inhalt so harmlos und damit objektiv entlastend für das BfV wäre.
In geheimer Sitzung wurde zum Abschluss der langjährige V-Mannführer des 2014 verstorbenen V-Mannes "Corelli" gehört.
Mord und rechtsterroristische Netzwerke in Dortmund
Zeugen aus NRW prägten die Sitzung am 1. Dezember. Der Mord an Mehmet Kubaşik im April 2006, die Ermittlungen dazu und militante Nazistrukturen in NRW als mögliches Unterstützerumfeld des Trios vor Ort waren die Themen mit den Zeugen. Zudem war mit Frau Büddefeld die Leiterin der Abteilung Rechtsextremismus im BfV als Zeugin geladen, die ab Januar 2012 für die Aufarbeitung des Falls im BfV verantwortlich war.
Dr. Heiko Artkämpfer, Oberstaatsanwalt aus Dortmund, war Ermittlungsleiter im Fall des Mordes an Mehmet Kubaşik. Artkämper hatte damals geäußert, beim Täter könnte es sich auch um einen "Durchgeknallten" handeln, "der Migranten hasst". Diese richtige Vermutung zur Tatmotivation führte jedoch zu keinerlei konkreten Ermittlungen in Richtung einer rechtsextremen Täterschaft. Laut Artkämper vor allem deshalb nicht, weil es für ihn keine "Anfasser" für konkrete Ermittlungen gegeben habe. Hinweise vom LfV oder dem Staatsschutz in diese Richtung habe es nicht gegeben. Zwar kannte er Dortmunder Nazigrößen wie Sebastian Seemann (V-Mann des LfV NRW) und Robin Schmiemann (Briefpartner von Beate Zschäpe 2013), die Ansätze rechtsterroristischer Strukturen über die Band Oidoxie waren ihm jedoch unbekannt.
Ein vernichtendes Urteil fällte Artkämper über das Verhalten des Verfassungsschützers Temme, der am Tatort in Kassel (nur zwei Tage nach dem Mord in Dortmund) vor Ort war, sich aber nicht bei der Polizei meldete. Artkämper sagte, nach damaligem Stand (2006) hätte er Temme inhaftiert.
Von Petra Pau wurde der Zeuge mit den Aussagen von Elif Kubaşik, der Frau des Mordopfers in Dortmund, konfrontiert, die in ihrer Aussage vor dem PUA-NRW sehr bewegend deutlich machte, welche schlimmen Folgen die Verdächtigungen gegen die Familie (Drogengeschäfte) für sie über Jahre hatten.
Aufarbeitung des NSU-Komplexes im BfV
Mit der Abteilungsleiterin Rechtsextremismus im BfV, Frau Büddefeld, hatte der Ausschuss die Verantwortliche für die Aufarbeitung des NSU-Komplexes im BfV ab 2012 geladen. Ihr Vorgänger, Herr Hertwig, der die Abteilung von 2005 bis Ende 2011 geleitet hatte, wurde mit dem Auffliegen des NSU geschasst. Als Zeuge für den parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) geladen, ist er bis heute krank gemeldet, so dass unklar ist, ob er vom Ausschuss noch gehört werden kann.
Frau Büddefeld kam als Leiterin ohne jeden inhaltlichen Bezug zum Thema Rechtsextremismus 2012 auf diese Position. Ihre Aufgabe war es, die Abteilung in der größten Krise des Amtes zu leiten und der Frage nachzugehen, welches Wissen im Amt zum Trio vorhanden war und warum eine rechtsterroristische Zelle vermeintlich nicht erkannt wurde. Die Zeugin räumte ein, dass sie für diese Aufgabe extremes Vertrauen in ihre Abteilung haben musste, da sie die gesamten Vorgänge im Bereich Rechtsextremismus in keiner Weise kannte. Hinzu kommt, dass sie die LoS (Lageorientierte Sondereinheit) des BfV Anfang 2012 leitet, die für die BfV-Version zum Trio verantwortlich war. Wie es um dieses Vertrauen bestellt war, nachdem sie im Sommer 2012 von den Schredderaktionen im Amt erfahren hatte, war ein zentrales Thema der Befragung. Ein Hinterfragen der Ergebnisse dieser LoS, an der auch der für die Aktenvernichtung verantwortliche Mitarbeiter Lingen beteiligt war, gab es nicht.
Ein spektakulärer Zeuge wurde am späteren Abend in geheimer Sitzung vernommen. Dreißig Jahre arbeitete der Zeuge im Bereich Rechtsextremismus im LfV NRW und noch nie gab es im PUA einen Verfassungsschutzzeugen, der so auskunftsfreudig, detailliert und kenntnisreich über seinen Arbeitsbereich berichtete. Buchstäblich das erste Mal hatte man den Eindruck, ein VS-Mitarbeiter könnte mehr über die Naziszene wissen als die regionale Antifa. Deutlich wurde über diesen Zeugen, welche Aufklärung auch mit Verfassungsschutzzeugen möglich wäre, hätten sie denn eine ähnliche Berufsauffassung wie dieser Zeuge.
Gerd Wiegel