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Die Opfer des NSU

Die Opfer nicht vergessen

Nachricht,

"Kein 10. Opfer" - unter diesem Motto gehen im Mai und Juni 2006 in Dortmund und Kassel Menschen auf die Straße. Sie fordern Schutz, sie fragen auf Transparenten: "Wo ist die Polizei?"

Dortmund, 4. April 2006: Mehmet Kubaşık liegt in einer Blutlache hinter dem dem Tresen seines Kiosks. Eine Kundin findet ihn, aber zu spät. Mehmet Kubaşık ist tot. Zwei Kugeln aus dem Lauf einer Ceska 83 beendeten sein Leben.

Zwei Tage später, am 6. April 2006, wird mit derselben Waffe Halit Yozgat in Kassel erschossen.

Rassistische Motive - davon wollte die Polizei nichts hören

Beide waren Opfer eine Mordserie, bei der seit dem September 2000 insgesamt neun Menschen ermordet wurden, die alle eine Migrationsgeschichte hatten und zumeist als Gewerbetreibende tätig waren. Die Tatwaffe war immer dieselbe, eine Ceska 83. Damit war klar, dass es sich um Taten einer Serie handelte. Die Angehörigen hielten ein rassistisches Motiv, einen rechtsextremen Hintergrund der Mordserie für wahrscheinlich. Und die Polizei? Bei der Polizei stießen die Angehörigen mit ihrer Argumentation auf taube Ohren.

Rund 4.000 Menschen nahmen an der Demo in Kassel teil, die meisten kamen aus migrantischen Communitys. Weder die deutsche Mehrheitsgesellschaft noch Antifaschistinnen und Antifaschisten erkannten die Mordserie als das, was sie war – eine rassistisch motivierte Serie neonazistischer Täter*innen, die für Angst und Schrecken unter Migrant*innen sorgen sollte. Immerhin hatten die drei Abgeordneten der LINKEN Hakki Keskin, Sevim Dagdelen und Hüseyin-Kenan Aydin im Jahr 2007 eine Kleine Anfrage zu den Morden an die Bundesregierung gerichtet. Die Antwort spiegelt die Ahnungslosigkeit der Behörden.

Enver Şimşek lautete der Name des ersten Mordopfers des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Am 9. Januar 2000 schossen ihn Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in seinem Transporter, mit dem er an diesem Tag einen mobilen Blumenstand an einer Ausfallstraße in Nürnberg betrieb, nieder. Zwei Tage danach erlag er seinen Verletzungen. Ein gutes Jahr später, am 13. Juni 2001, ermordeten der NSU Abdurrahim Özüdoğru im Ladengeschäft seiner Änderungsschneiderei. Erschossen mit einer Ceska 83. Nur zwei Wochen später töten Kugeln der Ceska 83 und einer weiteren Waffe Süleyman Taşköprü im Obst- und Gemüseladen seines Vaters in Hamburg. Im selben Jahr geschieht der vierte Mord und das Opfer ist Habil Kılıç, der in seinem Ladengeschäft in München von den Tätern ermordet wird. Zwei Jahre passiert nichts, dann töten Böhnhardt und Mundlos wieder. Dieses Mal in Rostock, der Name des Opfers: Mehmet Turgut. 2005 werden İsmail Yaşar in Nürnberg und Theodoros Boulgarides in München ebenfalls in ihren Ladengeschäften erschossen. Es folgen die beiden Morde im Jahr 2006.

"Wir durften nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein"

Aus heutiger Sicht liegt die rassistische Motivation dieser Mordserie offen zutage. Für zahlreiche Angehörige und Freunde der Opfer war das auch damals wahrscheinlich. Und die Polizei? Ernsthaft ermittelt wurde in diese Richtung so gut wie nie. Ganz im Gegenteil: Alle Opfer und ihre Angehörigen geraten im Zuge der polizeilichen Ermittlungen selbst in den Verdacht, an illegalen Machenschaften beteiligt zu sein. Drogengeschäfte, PKK-Aktivitäten, Spiel- oder Wettschulden, das waren die Hypothesen, mit denen vor allem im Umfeld der Opfer ermittelt, sie ins Zwielicht gerückt und ihre Familien denunziert wurden. Elf Jahre lang, so klagte Semiya Şimşek – die Tochter von Enver Şimşek – nach der Aufklärung des rassistischen Hintergrunds der Mordserie, durften wir "nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein".

Zwei Sprengstoffanschläge des NSU in Köln und einer in Nürnberg sorgten zwischen 1999 und 2004 für weitere verletzte Opfer mit einer Migrationsgeschichte. Auch hier handelt es sich um rassistisch motivierte Taten.

Über Jahre wurden Vewandte und Freunde der Opfer des NSU mit ihrer Trauer und ihrer Angst alleine gelassen. Das Versprechen der Bundeskanzlerin von der rückhaltlosen Aufklärung? Das sehen sie als gebrochen an. Und auch im NSU-Prozess fühlten sie sich und ihre Fragen an den Rand gedrängt.

"Kein 10. Opfer", das war Forderung und Hoffnung der Angehörigen 2006. Auch dieser Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen. Am 25. April 2007 erschoss der NSU die Polizistin Michèle Kiesewetter. Ihr folgten bis heute 45 weitere Opfer rechter und rassistischer Gewalt.