Im Interview zeigt sich der Linken-Politiker bestürzt über die Situation in dem überfallenen Land, das er momentan besucht. An seiner Haltung zu Waffenlieferungen hat sich nichts geändert. Interview: Lena Schulze
Herr Bartsch, Sie befinden sich aktuell in der Ukraine. Wo sind Sie, wer begleitet Sie?
Dietmar Bartsch: Ich bin am Dienstag gemeinsam mit dem Arzt und Professor Gerhard Trabert und dem Leiter unserer Pressestelle, Michael Schlick, nach Kiew gereist. Jetzt sind wir in Charkiw. Wir haben außerdem einige kleinere Städte und Dörfer besucht, darunter Irpin und Butscha. Morgen werden wir Babyn Jar besuchen, wo im Zweiten Weltkrieg innerhalb von 48 Stunden 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet worden sind.
Was ist das Ziel Ihrer Reise?
Zum einen wollten wir uns hier ein Bild davon machen, was dieser furchtbare russische Angriffskrieg für die Menschen vor Ort bedeutet. Vor allem aber geht es darum, humanitäre Hilfe zu leisten. Wir haben unter anderem mehrere Krankenhäuser besucht, denen Gerhard Trabert dank großzügiger Spenden seines Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“ mehrere medizinische Geräte übergeben konnte, die hier so sehr gebraucht werden. Die Menschen brauchen fast alles und sind dankbar für jede Hilfeleistung. Die Freude darüber, dass wir überhaupt da waren, war riesengroß.
Sie kennen die Ukraine, vor dem Krieg. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs sind Sie nun das erste mal wieder dort. Wie anders ist die Wahrnehmung der Lage dort, aus Berlin und nun vor Ort?
Die Zerstörung und das Leid, das wir hier sehen, ist unfassbar. Die Verletzten und die Verwundeten zu sehen, vor allem ihre Geschichten zu hören, das war über die Maße bedrückend. Was sich hier abspielt, ist eine humanitäre Katastrophe. Es ist etwas völlig anderes, das alles mit eigenen Augen zu sehen, als Bilder im Fernsehen.
Was hat Sie am meisten bewegt?
Das kann ich schwer sagen, da ist ganz viel. Dieses schwer verwundete Land mit seinem großen Heldenmut. Ich habe viele lethargische, vor allem alte Menschen gesehen, ebenso wie schwer verletzte Soldaten im Krankenhaus, die unbedingt wieder aufstehen und weiterkämpfen wollen. Kräne für den Wiederaufbau, daneben Panzerfriedhöfe. Wir haben den Oberrabbiner der jüdischen Gemeinde von Kiew getroffen, eine Initiative begleitet, die an sechs Tagen in der Woche Essen verteilt. Da kommen viele ältere Menschen, vor allem Frauen, die so glücklich sind, dass sie eine Portion Essen bekommen. Für viele von ihnen ist es die einzige am Tag. Wir waren in einem kleinen Ort bei Charkiv, in dem kein einziges Haus intakt war, kein Strom, kein Wasser. Trotzdem kommen die Leute zurück, freuen sich, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit gilt Städten wie Kiew, Charkiw oder Odessa. Die kleineren geschundenen Orte bekommen von der großen Solidarität wenig mit. Und die Möglichkeiten der Ukraine sind begrenzt.
Hat all das, was Sie jetzt schildern, ihre Haltung zu Waffenlieferungen aus Deutschland verändert?
Seit ich selbst die nächtlichen Sirenen miterlebt habe, die Raketenalarme, die hier Alltag sind in fast jeder Nacht, hat sich meine Ansicht in Bezug auf Abwehrschirme gewandelt: Sie sind hilfreich und hier in der aktuellen Situation unentbehrlich. Allerdings bleibe ich dabei, dass mehr Waffen und schnellere Waffenlieferungen uns der Lösung keinen Schritt näherbringen werden. Diplomatie darf kein Schimpfwort sein, man muss alles versuchen für den Frieden.