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Prof. Dr. Gerhard Trabert und Dietmar Bartsch übergeben am 19. Mai 2023 in einem Krankenhaus in Charkiw ein weiteres Dermatom zur Transplantation von Haut und andere medizinische Hilfsgüter übergeben.

Linken-Fraktionschef Bartsch in der Ukraine: »Europa kann und sollte diplomatisch mehr leisten«

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, Der Tagesspiegel,

Im Interview zeigt sich der Linken-Politiker bestürzt über die Situation in dem überfallenen Land, das er momentan besucht. An seiner Haltung zu Waffenlieferungen hat sich nichts geändert. Interview: Lena Schulze

 

Herr Bartsch, Sie befinden sich aktuell in der Ukraine. Wo sind Sie, wer begleitet Sie?
Dietmar Bartsch: Ich bin am Dienstag gemeinsam mit dem Arzt und Professor Gerhard Trabert und dem Leiter unserer Pressestelle, Michael Schlick, nach Kiew gereist. Jetzt sind wir in Charkiw. Wir haben außerdem einige kleinere Städte und Dörfer besucht, darunter Irpin und Butscha. Morgen werden wir Babyn Jar besuchen, wo im Zweiten Weltkrieg innerhalb von 48 Stunden 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet worden sind.

Was ist das Ziel Ihrer Reise?
Zum einen wollten wir uns hier ein Bild davon machen, was dieser furchtbare russische Angriffskrieg für die Menschen vor Ort bedeutet. Vor allem aber geht es darum, humanitäre Hilfe zu leisten. Wir haben unter anderem mehrere Krankenhäuser besucht, denen Gerhard Trabert dank großzügiger Spenden seines Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“ mehrere medizinische Geräte übergeben konnte, die hier so sehr gebraucht werden. Die Menschen brauchen fast alles und sind dankbar für jede Hilfeleistung. Die Freude darüber, dass wir überhaupt da waren, war riesengroß.

Sie kennen die Ukraine, vor dem Krieg. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs sind Sie nun das erste mal wieder dort. Wie anders ist die Wahrnehmung der Lage dort, aus Berlin und nun vor Ort?
Die Zerstörung und das Leid, das wir hier sehen, ist unfassbar. Die Verletzten und die Verwundeten zu sehen, vor allem ihre Geschichten zu hören, das war über die Maße bedrückend. Was sich hier abspielt, ist eine humanitäre Katastrophe. Es ist etwas völlig anderes, das alles mit eigenen Augen zu sehen, als Bilder im Fernsehen.

Was hat Sie am meisten bewegt?
Das kann ich schwer sagen, da ist ganz viel. Dieses schwer verwundete Land mit seinem großen Heldenmut. Ich habe viele lethargische, vor allem alte Menschen gesehen, ebenso wie schwer verletzte Soldaten im Krankenhaus, die unbedingt wieder aufstehen und weiterkämpfen wollen. Kräne für den Wiederaufbau, daneben Panzerfriedhöfe. Wir haben den Oberrabbiner der jüdischen Gemeinde von Kiew getroffen, eine Initiative begleitet, die an sechs Tagen in der Woche Essen verteilt. Da kommen viele ältere Menschen, vor allem Frauen, die so glücklich sind, dass sie eine Portion Essen bekommen. Für viele von ihnen ist es die einzige am Tag. Wir waren in einem kleinen Ort bei Charkiv, in dem kein einziges Haus intakt war, kein Strom, kein Wasser. Trotzdem kommen die Leute zurück, freuen sich, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit gilt Städten wie Kiew, Charkiw oder Odessa. Die kleineren geschundenen Orte bekommen von der großen Solidarität wenig mit. Und die Möglichkeiten der Ukraine sind begrenzt.

Hat all das, was Sie jetzt schildern, ihre Haltung zu Waffenlieferungen aus Deutschland verändert?
Seit ich selbst die nächtlichen Sirenen miterlebt habe, die Raketenalarme, die hier Alltag sind in fast jeder Nacht, hat sich meine Ansicht in Bezug auf Abwehrschirme gewandelt: Sie sind hilfreich und hier in der aktuellen Situation unentbehrlich. Allerdings bleibe ich dabei, dass mehr Waffen und schnellere Waffenlieferungen uns der Lösung keinen Schritt näherbringen werden. Diplomatie darf kein Schimpfwort sein, man muss alles versuchen für den Frieden.

Alles versuchen, was bedeutet das? Auch Gespräche mit Putin?
Vielleicht auch das. Allerdings halte ich das als Schlüssel zum Erfolg für unterkomplex. „Fahr doch zu Putin“, heißt es manchmal so oberschlau. Ich halte es mit Helmut Schmidt: Lieber hundertmal reden als einmal schießen. Alles, was es an Ideen für eine Friedenslösung gibt, muss auf den Tisch. Und ich möchte noch einmal klar betonen: Es gibt für mich keine Zweifel daran, dass Russland der Aggressor ist, da gibt es nichts zu relativieren. Am Ende entscheidet ohnehin die Ukraine, und natürlich gilt es vor allem, ihre Integrität zu wahren. Aber wofür ich immer wieder werbe, ist eine europäisch abgestimmte Friedensinitiative.

Reden, ist das in diesem Fall wirklich aussichtsreich?
Wir haben Belege dafür, dass es funktionieren kann, zum Beispiel den Gefangenenaustausch oder das Getreideabkommen. Gespräche und Diplomatie können Ergebnisse zeitigen, auch in diesem Konflikt.

Die Präsidenten Ägyptens, der Republik Kongo, Sambias, des Senegal, Südafrikas und Ugandas haben sich als Vermittler in Stellung gebracht und wollen sich mit Delegationen in Kiew und Moskau für ein Ende des Krieges starkmachen. Was halten Sie von der Friedensinitiative der afrikanischen Staaten zur Beendigung des Krieges in der Ukraine?
Ich sage ganz klar: Ich begrüße jede Initiative, die sich für die Beendigung des Krieges starkmacht. Das gilt umso mehr, seit ich all das hier gesehen habe. Zur gleichen Zeit wie wir war auch eine chinesische Delegation in Kiew, die Gespräche in der Ukraine führt und dann zu Gesprächen nach Moskau weiterreist. Viele Menschen in der Ukraine wollen nur, dass der Krieg schnellstmöglich endet. Auch Präsident Selenskyj steht diesen Initiativen nicht feindlich gegenüber. Warum sollten wir uns dann dagegen sperren? Im Gegenteil: Europa kann und sollte diplomatisch mehr leisten.

Der Tagesspiegel,