Rekordhoch bei Leiharbeit: Im Jahr 2015 wurden mehr als 960 000 Menschen als Leiharbeitskräfte eingesetzt – rund dreimal mehr als vor dreizehn Jahren (2003: 328.000). Fraktionsvize Klaus Ernst (DIE LINKE): »Die Leiharbeit boomt. Das Zweiklassensystem hat sich in vielen Betrieben leider etabliert.«
Jörg Lelickens (49) aus Berlin-Neukölln war früher in einem großen Malerbetrieb fest angestellt. Seit zehn Jahren hangelt sich der gelernte Maler und Lackierer von Leiharbeitsjob zu Leiharbeitsjob. »Es hat mit der Agenda 2010 begonnen«, sagt er, »seitdem haben viele Firmen nur noch eine kleine Kernbelegschaft, der Rest wird nach Bedarf entliehen.« Ein städtisches Krankenhaus sei gemalert worden von einem Festangestellten und 50 Leiharbeitern. Leiharbeitskräfte haben viele Nachteile. Nur selten werden sie vom Betrieb übernommen. Für mehr als die Hälfte der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter endet der Arbeitseinsatz nach höchsten drei Monaten. Dann wird ihnen gekündigt, oder es folgt ein anderer Job in einem anderen Unternehmen. Leiharbeitskräfte genießen keinen Kündigungsschutz in dem Unternehmen, in dem sie eingesetzt werden, und haben wenig Mitbestimmungsrechte.
Rund 2.000 Euro brutto verdient Jörg Lelickens im Monat. Das liegt minimal über dem Branchenmindestlohn. Mal wird er für drei Tage, mal für acht Monate an andere Malerbetriebe verliehen. »Für die sind wir Arbeitnehmer zweiter Klasse«, sagt er, »wenn es wenig Arbeit gibt, sind wir die Ersten, die gehen müssen.« Oft fallen Überstunden an, die kaum entlohnt werden. Betriebsbedingte Kündigungen im Winter seien gängig, berichtet der 49-Jährige.
Leiharbeit sorgt für Niedriglöhne
Unternehmen nutzen Leiharbeit aus, um Belegschaften zu spalten und Löhne zu drücken. Das Bruttogehalt von Leiharbeitskräften liegt im Mittel bei 1.700 Euro; 65 Prozent von ihnen erhalten Niedriglöhne. Knapp sechs Prozent müssen ihren Lohn mit Hartz IV aufstocken. Arbeitsmarktexpertin Sabine Zimmermann (DIE LINKE): »Die Leiharbeit war und ist der Motor der Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland.« Nur für wenige sei sie »ein Sprungbrett in ein normales Arbeitsverhältnis«. Unternehmen stellen Leiharbeitskräfte rasch ein und schmeißen sie oft ebenso schnell wieder raus. Nur jedes vierte Leiharbeitsverhältnis besteht länger als neun Monate.
Ein einziges Mal in den vergangenen zehn Jahren wollte ein Betrieb Jörg Lelickens übernehmen. Doch der Malerbetrieb hätte eine Ablöse an die Leiharbeitsfirma zahlen müssen – rund drei Monatsgehälter. So sei es im Vertrag zwischen Leiharbeitsfirma und dem Entleihbetrieb vereinbart worden, erzählt Lelickens. Die Folge: keine Festanstellung für ihn. Seiner Erfahrung nach sind solche Klauseln keine Seltenheit.
Der Boom der Leiharbeit spiegelt sich bei den deutschen Leiharbeitskonzernen wider. Randstad (über 550 Niederlassungen in 300 deutschen Städten) beschäftigt etwa 55.000 Leiharbeitskräfte und machte im vergangenen Jahr einen Umsatz von 1,97 Milliarden Euro. Auch Adecco, Persona Service und Personal Hofmann verleihen in ganz Deutschland Zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter und machen Millionenumsätze. Seit Jahren vermitteln Jobcenter und Arbeitsagenturen rund ein Drittel der Erwerbslosen in Leiharbeit. 214.000 der insgesamt 665.000 offenen Stellen, die ihnen von Unternehmen zur Weitervermittlung gemeldet werden, sind Leiharbeitsverhältnisse. Klaus Ernst: »Lassen sich Arbeitslose nicht auf Leiharbeit ein, drohen Sanktionen durch das Jobcenter.« Die Folge: Für jeden fünften Erwerbslosen folgt auf die Arbeitslosigkeit ein Job in einer Leiharbeitsfirma. Auch Jörg Lelickens hat mit dem Arbeitsamt und dem Jobcenter schlechte Erfahrungen gemacht. »Jahrelang habe ich vom Jobcenter nur Angebote für Leiharbeitsfirmen bekommen«, sagt er. In der Malerbranche sei Leiharbeit mittlerweile Standard. Man komme um Leiharbeitsfirmen nicht herum.
Leiharbeit wird zum Dauerzustand
Im Oktober haben CDU/CSU und SPD ein neues Gesetz zur Leiharbeit beschlossen. Erstmals können Unternehmen – völlig legal – reguläre Arbeitsplätze dauerhaft durch Leiharbeitsplätze ersetzen. Zwar sollen zukünftig Leiharbeitskräfte nach neun Monaten den gleichen Lohn erhalten wie Stammbelegschaften, doch die Hälfte der Leiharbeitskräfte arbeitet maximal drei Monate in einem Betrieb. Und das Gesetz erlaubt es, Leiharbeitskräfte bis zu 15 Monate lang schlechter zu bezahlen, wenn dies in einem Tarifvertrag geregelt ist. Die Mehrheit der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wird somit weiterhin weniger Lohn erhalten als die festangestellten Kolleginnen und Kollegen.
Zudem legt das Gesetz eine maximale Einsatzdauer von 18 Monaten im Entleihbetrieb fest. Das gilt aber nur für die Leiharbeitskraft, nicht für den Arbeitsplatz. Unternehmen können auf demselben Arbeitsplatz immer neue Leiharbeitskräfte einsetzen. Noch krasser: Ein Schlosser oder eine Lackiererin kann von der Zeitarbeitsfirma eineinhalb Jahre lang an ein Unternehmen ausgeliehen werden. Dann folgt die Kündigung oder ein Arbeitsplatzwechsel. Und nach einer Wartefrist von drei Monaten kann dieselbe Person in demselben Unternehmen wieder derselben Tätigkeit nachgehen – erneut für weniger Lohn. Leiharbeit wird durch das Gesetz zu einem Dauerzustand.
Vor Jahren ist Jörg Lelickens Mitglied der Gewerkschaft IG BAU geworden. Damals wollte er sich wehren gegen die Niedriglohnpolitik, die SPD und Grüne mit der Agenda 2010 beschlossen hatten. Noch immer setzt er sich ein für ein Verbot von Leiharbeit. »Leiharbeit ist moderne Sklaverei«, sagt er, »damit muss Schluss sein.«