Von Gerd Wiegel
NSU-Mord in Kassel und ein Verfassungsschützer am Tatort
"Wir haben keine Ermittlungsrichtung ausgeschlossen, aber uns fehlten die Anfasser in Richtung Rechtsextremismus", fasste Dr. Götz Wied, der leitende Staatsanwalt für die Ermittlungen zum Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel, seine Sicht der Dinge in der letzten Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses im Jahr 2016 zusammen. Ähnlich wurde es den Abgeordneten auch schon von den Ermittlern in anderen Mordfällen des NSU geschildert. Obwohl die Akten fast durchgehend intensive Ermittlungen im Umfeld der Opfer und ihrer Familien dokumentieren und sich wenig bis nichts zu einem möglichen rassistischen/rechten Hintergrund findet, hält sich die Standardformulierung der „Ermittlungen in alle Richtungen“.
Der Zeuge Wied leitete die Ermittlungen zum letzten bekannten NSU-Mord in der rassistisch begründeten Ceska-Serie. Zwei Tage vor der Tat in Kassel war es zum Mord an Mehmet Kubaşik in Dortmund gekommen. Mit dem 9. Mord wurden die Ermittlungen noch einmal hochgefahren und in Bayern ließ man ein Profiler-Gutachten erstellen, das zu dem Schluss kam, der oder die Täter könnten auch eine rassistische Motivation haben und aus der Naziszene kommen. Die Mehrheit der Ermittler hielt jedoch eisern an der These "organisierte Kriminalität" fest, womit sich die Ermittlungen weiter auf das Umfeld der Opfer konzentrierten. Auch der Zeuge Wied war bei der Vorstellung des Profiler-Gutachtens dabei, konkrete Folgerungen für die eigenen Ermittlungen in Kassel hat er daraus jedoch nicht gezogen. Vom LINKEN MdB Frank Tempel wurde er mehrfach gefragt, was er unternommen habe, um mögliche „Anfasser“ in Richtung rechte Täter zu generieren, eine konkrete Antwort blieb jedoch aus.
In Bayern hatte die BAO Bosporus immerhin Daten zu bekannten Rechtsextremisten in Nürnberg (drei Morde) und Umgebung vom Landesamt für Verfassungsschutz (LfA) angefordert, das sich mit der Antwort jedoch sieben Monate (!!) Zeit ließ. In Kassel erfolgte dagegen keine Anfrage beim LfV. So blieb es Wied und seinen Ermittlern natürlich verborgen, dass es auch in Kassel militante Nazistrukturen gab; dass es über die Band „Oidoxie“ und die zu ihr gehörende „Oidoxie Streetfighting Crew“ eine Beziehung zwischen Dortmunder und Kasseler Nazis gab, die sich zu den rechtsterroristischen Strukturen von Combat 18 bekannten. Da nach „Anfassern“ in Richtung rechtsextremen Tätern nicht gesucht wurde, fanden auch keine Ermittlungen in dieser Richtung statt.
Verfassungsschützer unter Tatverdacht
Dabei gab es einen tatsächlichen Anfasser in diese Richtung. Denn als ein dringend Tatverdächtiger wurde zwei Wochen nach der Tat der Mitarbeiter des LfV Hessen, Andreas Temme, festgenommen, der als V-Mann-Führer auch Quellen aus der rechten Szene führte. Temme war zum Zeitpunkt des Mordes im Internetcafé vor Ort und hatte sich als einziger Zeuge nicht bei der Polizei gemeldet.
Um die Person Temme und seine mögliche Tatbeteiligung bzw. sein Wissen von der Tat abklären zu können, wollten die Ermittler auch die Quellen von Temme vernehmen, mit denen er im Umfeld der Tat zum Teil Kontakt hatte. Dies wurde vom LfV und schließlich auch vom damaligen Innenminister Bouffier mit Verweis auf den Quellenschutz verweigert. Der erste PUA-NSU des Bundestages hat sich ausführlich mit diesem Vorgang beschäftigt.
Von besonderem Interesse waren dabei Quellen aus dem rechten Bereich, denn natürlich steht bis heute im Raum, ob Temme möglicherweise nicht zufällig am Tatort war, sondern vorher einen Hinweis bekommen hatte. Die Ermittler gingen nach Aussage des Zeugen Wied von einer Quelle Temmes im Bereich Rechtsextremismus aus. Petra Pau von der LINKEN fragte die Zeugin Dr. Iris Pilling, damals Referatsleiterin Forschung und Werbung des LfV Hessen, ob Temme 2006 tatsächlich nur eine Quelle im Bereich Rechtsextremismus geführt habe, denn die dem Ausschuss keine 48 Stunden zuvor vom Land Hessen gelieferten Akten würden anderes nahe legen. In öffentlicher Sitzung wies die Zeugin nur auf den Unterschied von V-Mann-Führung und Stellvertreterregelungen hin. Hätte Temme eine zweite Quelle aus dem Bereich Rechtsextremismus zur Tatzeit auch nur stellvertretend geführt, wäre diese Info für die Ermittlungen wichtig gewesen. Bei der Polizei lag sie jedoch offensichtlich nicht vor.
Während in der Öffentlichkeit bisher der Eindruck erweckt wurde, der von Temme geführte V-Mann habe vor allem zu unbedeutenden rechten Kleinparteien berichtet, wurden durch die Fragen von Petra Pau seine Verbindungen in die militante rechte Szene deutlich. So hatte er Kontakte zu einem Mitglied der Kasseler Kameradschaft „Sturm 18“ der deutliche Affinitäten zu Sprengstoff und rechtsterroristischen Szenen hatte und dessen Freundin wiederum aus dem Thüringer Heimatschutz stammt – der Neonazistruktur also, aus der das Trio kommt. Genügend „Anfasser“ für weitere Ermittlungen, die jedoch weder von der Polizei durchgeführt noch vom LfV Hessen angeregt wurden.
Schließlich wurde die Zeugin Pilling noch zu einer Mail befragt, die sie im März 2006 an ihre Mitarbeiter_innen im LfV geschickt hatte und in der es um die Ceska-Mordserie ging. Wenige Wochen vor den Morden 8 und 9 der Serie hatte sich das BKA, vermittelt durch einen persönlichen Kontakt, an das LfV gewandt, um über die Zeugin Pilling das Thema der Ceska-Mordserie zum Thema im Verfassungsschutzverbund zu machen. Warum das nicht auf offiziellem Weg über das BfV geschah, blieb offen. Die Behauptung von Andreas Temme, vor dem Mord in Kassel nie etwas von der Ceska-Serie gehört zu haben, steht damit auf wackeligen Füßen, denn ihn hätte diese Mail auch erreichen müssen.
Die nächste öffentliche Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses findet am 19. Januar 2017 ab 11 Uhr statt.