Frank Tempel, Innenpolitiker der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, im Interview mit der Tageszeitung "neues deutschland", über Alternativen zur Terrorabwehr der Bundesregierung
Dass Angst Seele auffrisst, wissen wir spätestens seit dem preisgekrönten Film von Rainer Werner Fassbinder. Dass Angst Verstand auffrisst, erleben wir gerade. Die Masse der Bürger hat Angst vor Terror, fühlt sich aber generell sicher hierzulande. Können Sie das erklären?
Frank Tempel: Wir begeben uns ins Subjektive. Terroranschläge rücken näher. Natürlich wächst da Angst. Gleichzeitig ist da die Hoffnung: Mich erwischt es nicht. Das ist wie mit »dem Flüchtling«, vor dem man Angst haben »muss«. Gerade, wenn es im eigenen Umfeld gar keinen Flüchtling gibt. Kurzum: Unbekanntes wird schnell nur als Gefahr empfunden ...
... und die LINKE als Kraft für soziale Sicherheit. Sicherheitspolitische Kompetenz wider Terror billigt man ihr kaum zu. Da wenden sich Bürger wohl besser an die CDU von Bundesinnenminister de Maizière?
Weil die in den vergangenen Jahren Sicherheit abgebaut haben? Bei Landes- und Bundespolizeien fielen fast 18 000 Stellen weg. Ich habe in den vergangenen Monaten Polizeidienststellen in Görlitz, Klingenthal, Gera und auch Landes- und Bundesdienststellen besucht. Präventionsarbeit findet da fast nicht mehr statt.
Alle Parteien fordern mehr Stellen bei der Polizei.
Das ist auch richtig. Wir plädieren aber im Unterschied zu den anderen dafür, die Stellen in die Fläche zu verteilen und nicht nur zentrale Einheiten zu verstärken. Nur so kommen wieder Polizisten auf die Straße. Und: Es ergibt keinen Sinn, Hunderttausende Arbeitsstunden zu verschwenden, um Delikte wie Schwarzfahren, den Besitz kleinster Mengen von Drogen oder die illegale Einreise aufzunehmen – mit dem Wissen, dass die Staatsanwaltschaften alles wieder einstellen.
Zurück zur Union. Die ist keine »Sicherheitsfraktion«, sie ist allenfalls eine Fraktion für Law and Order, also für Überwachung und für den Abbau demokratischer Rechte.
Demokratie verteidigt die Linkspartei durch Nein-Sagen. Sie ist gegen mehr Staat, neue Gesetze und Dateien, gegen mehr Videoüberwachung. Auch nach dem schrecklichen Attentat auf dem Berliner Weihnachtsmarkt. Hat Ihre Partei etwa ein gestörtes Verhältnis zu staatlicher Sicherheit?
Nein, wir haben alternative Vorstellungen. Und es leider versäumt, die deutlich genug vorzustellen.
Na dann mal zu! Mehr Stellen hatten wir …
Wir wollen – und dahinter stehe ich vollkommen – dass der Verfassungsschutz aufgelöst wird.
Das ist gerade in einer gefühlten Bedrohung durch Terroranschläge für den Bürger schwer verständlich, oder?
Moment mal. Wenn wir die sogenannten Gefährderlagen anschauen, dann wird deutlich, dass wir offensichtlich zwei Exekutiven haben: Verfassungsschutz und Polizei. Diese Situation erhöht das Sicherheitsrisiko. Sie wissen schon, viele Köche ... Es gibt jede Menge Schnittstellenprobleme, angefangen bei der Kommunikation bis hin zu bewussten Blockaden. Das war bei dem Verdächtigen in Chemnitz so, der sich dann im Gefängnis umgebracht hat, und das erleben wir gerade wieder bei der Aufarbeitung der Ereignisse rund um den Berliner Breitscheidplatz. Also: Gefahrenabwehr und Straftatenverfolgung gehören per Gesetz zur Polizei. Wir schlagen vor, das auch grundsätzlich so zu regeln. Terrorbekämpfung ist Polizeipflicht.
Mit einer zentralen Behörde?
Ich kann mir vorstellen, dass das Bundeskriminalamt für die Koordinierung verstärkt werden muss. Aber ansonsten sind die Polizeien auch in dem Bereich Organisierter Kriminalität ganz gut aufgestellt. Der Föderalismus bleibt – egal, was die Union sagt – wichtig. Wir haben im Bereich des sogenannten Extremismus im Ruhrgebiet ganz andere Schwerpunkte als in Sachsen, wo man es relativ wenig mit organisierten Gruppen im Bereich des Salafismus zu tun hat, wo sich aber Rechtsextremisten tummeln. Föderalismus kann sehr wohl ein Gewinn für Sicherheit sein, weil man flexibler auf tatsächliche Besonderheiten der Region reagieren kann.
Der Bundesinnenminister will alles zentralisieren. Dabei kocht doch beispielsweise das Bundeskriminalamt (BKA) auch nur mit Wasser. Man erlebt das bisweilen quälend im Untersuchungsausschuss zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU).
Stimmt, da sehen wir immer wieder dieselben Fehlerquellen in Landes- wie in Bundesbehörden. Wir müssen an den wirklichen Schwachstellen arbeiten, und das heißt nicht Zentralisierung, sondern die Kommunikation. Wenn wir also ein gemeinsames Abwehrzentrum haben, das mehrfach über den Gefährder Anis Amri, also den Berliner Lkw-Mörder berät, ohne dass nachher klar ist, wer für was zuständig ist, dann nutzt so ein Gremium nichts. Kaffee trinken und schwatzen kann man außerhalb der Dienstzeit.
Liegt so eine Arbeitsweise nicht auch an mangelnder Kontrolle?
Ein Geheimdienst hat wesentlich mehr Freiheiten in vielen Bereichen. Bei der Polizei ist alles klar nach Strafprozessordnung geregelt, sie ist leichter zu kontrollieren. Auch das wäre ein Sicherheitsgewinn, weil es durch öffentliche und parlamentarische Kontrolle eine bessere Fehleranalyse gibt. Man kann früher und transparenter auf Schwachstellen reagieren.
Die Exekutive hat gemeinsame Abwehrzentren. Die Innenminister aus Bund und Ländern treffen sich regelmäßig. Wieso bleibt man im parlamentarischen Bereich im jeweiligen Suppenteller?
Interessante Frage, die wird so noch nicht diskutiert. Stimmt, man könnte parallel zum Bundesrat die parlamentarische Kontrolle übergreifender gestalten. Das könnte man nach der Bundestagswahl angehen. Gemeinsam mit den Ländern.
Die Union macht das Thema Terrorabwehr gerade zu einem Top-Wahlkampfthema. Wird sich die LINKE da raus halten?
Keinesfalls, schon weil das, was die Union vorschlägt, gefährlich ist. Wir reden viel über Gefährder. Aber von der Regierungsseite wird überhaupt nicht gefragt, woher die kommen. So vermittelt sich mittlerweile der Eindruck, Gefährder kommen als Flüchtlinge in unser Land, mit der Absicht zu töten. Die Praxis zeigt aber, dass ein Großteil der Gefährder sich erst bei uns radikalisiert hat. Normalerweise sind zivile Strukturen für besorgte Freunde und Familienangehörige eher Ansprechpartner als Polizei oder Geheimdienste. Wir haben auch einige sehr kompetente Vereine und Gruppen. Doch sie sind zu schwach und werden zu wenig unterstützt, um solchen Radikalisierungen entgegen zu wirken.
Sicherheit durch Sozialarbeit? Womöglich findet man ja auch unter den Flüchtlingen geeignete Partner.
Sicher. Ich habe mit Flüchtlingen, die in meinem Landkreis wohnen, gesprochen. Viele sind aus Angst vor Terror aus ihrer Heimat geflohen und wütend, dass einige wenige Landsleute hier Hass, Zwietracht und Gewalt säen. Wir müssen denen, die Integration wollen, mehr Hilfe geben, wenn sie sich um ihre Freunde und Nachbarn kümmern. Auch das ist ein Moment von mehr Sicherheit.
Ich erinnere mich an Kleingartenkolonien mit Schildern: Achtung, wachsamer Nachbar … So etwa?
Sozialarbeit verlangt schon mehr. Doch, von mir aus, rechnen wir mal ganz simpel. Man braucht bis zu 40 Beamte, um einen Gefährder zu beobachten. Aber ein guter Sozialarbeiter kann Dutzende Menschen erreichen und helfen, dass sie nicht abstürzen. Doch derzeit haben wir bei einem der erfolgreichsten Deradikalisierungsvereine gerade einmal zweieinhalb Personalstellen für 235 zumeist junge Menschen, von denen wir annehmen, dass sie zu Gefährdern werden könnten. Wie wäre es mit einem Sozialarbeiter für 30 oder 40 Gefährdete?
Ausgehend von den Erfahrungen mit dem NSU wage ich eine Prognose. Die Zuständigen für das Versagen gegenüber dem Nazi-Terror-Netzwerk behaupten, der 11. September 2001 zwang zur Konzentration wider Islamismus. In ein paar Jahren werden wir das wieder hören?
Das ist schon jetzt so. Die politische Debatte kreist momentan ausschließlich um Islamismus und Salafismus. Da ist anderes längst wieder aus dem Blickfeld geraten. Die meisten Vorschläge der Union betreffen das Asylrecht. Wir wissen aber, dass viele der bekannten Gefährder gar keinen ausländischen Hintergrund haben, sondern in Deutschland aufgewachsen sind, einen deutschen Pass haben. Für über 500 Rechtsextreme gibt es Haftbefehle, doch sie sind einfach abgetaucht. Wir wissen aus dem Fall des NSU, wo das hinführen kann.