Kinderarmut ist kein neues Problem. Im Gegenteil, Jahr für Jahr gibt es mehr arme Kinder. Jetzt sind wir bei zwei Millionen. Was ist politisch falsch gelaufen, dass Kinder in Verhältnisse hineingeboren werden, aus denen sie später selbst kaum noch rauskommen?
Dietmar Bartsch: Deutschland gehört zu den vermögendsten Staaten der Welt. Der Reichtum ist jedoch höchst ungleich verteilt. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt fast 30 Prozent des Nettovermögens. Die Vermögenspyramide spitzt sich immer weiter zu. Der Reallohn hinkt hingegen hinterher. Untere Einkommensgruppen haben mit sinkenden verfügbaren Haushaltseinkommen zu kämpfen. Die Zahlen zeigen: Deutschland wird immer ungerechter. Besonders betroffen sind dabei Kinder und Jugendliche. Ihre Armutsquote ist hierzulande deutlich höher als in den skandinavischen Ländern, aber auch die Schweiz, Tschechien oder Zypern sind hier gerechter.
War Eltern- und Kinderarmut in den 1990er Jahren scheinbar ein eher ostdeutsches Problem, hat sich das gewandelt. Mit welchen Folgen zunächst für die betroffenen Kinder und Jugendlichen?
Kinder tragen keinerlei Verantwortung für ihre Situation. Ihre Lebensumstände werden von den Eltern und der Gesellschaft bestimmt. Tatsache ist, für die Zukunft eines Kindes ist es von großer Bedeutung, wo es in Deutschland aufwächst. Die Armutsgefährdungsquote für Mädchen und Jungen liegt in weiten Teilen Bayerns und Baden-Württembergs bei unter zwölf Prozent, in den Stadtstaaten, in Ostdeutschland sowie in Teilen Nordrhein-Westfalens bei über 25 Prozent. Bundesweit ist jedes fünfte Kind armutsgefährdet. Die Folgen sind verheerend: Kinder aus einkommensschwachen Familien haben weniger Chancen auf eine gute Bildung und damit auf einen gut bezahlten Job. Eine prekäre finanzielle Situation in der Familie führt zusätzlich zu Konflikten, Stress und Ängsten. Eine unbeschwerte, glückliche Kindheit sieht anders aus.
Kann sich die Gesellschaft das eigentlich leisten?
Ethisch und volkswirtschaftlich wird Kinderarmut zum größten Problem unseres Landes. Das Grundgesetz fordert gleichwertige Lebensverhältnisse. Davon sind wir weit entfernt. Besonders betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden. Ihr Risiko, armutsgefährdet zu sein, ist mit 40 Prozent deutlich höher. Nicht einmal die Hälfte aller Alleinerziehenden, in der Regel Frauen, erhält Unterhalt vom Ex-Partner. Ersatzweise wird ein viel zu geringer und zeitlich zu kurz bemessener Unterhaltsvorschuss gezahlt.
Anträge, um Kindern aus einkommensschwachen Familien gute und gleiche Chancen zu ermöglichen, gab es in den letzten Jahren von der Fraktion DIE LINKE immer wieder. Was ist anders am Aktionsplan?
Der Größe des Problems steht eine weitgehende politische Leere gegenüber. Es fehlen nicht nur das Problembewusstsein, sondern auch konkrete Pläne, um Kinderarmut zu verringern. Rumdoktern an Einzelfragen wird nicht weiterhelfen. Wir brauchen einen umfassenden Aktionsplan, der alle Aspekte miteinander verknüpft und denkt.
Welche Vorschläge macht DIE LINKE selbst?
Wir haben umfassende Vorschläge. Stichworte: Wir fordern eine Kindergrundsicherung, wollen den Unterhaltsvorschuss deutlich anheben und zeitlich ausbauen, wir haben Initiativen zur Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen und Ideen zur Verbesserung der Situation in den sozialpädagogischen Diensten der Jugendämter. Mitarbeiter dort sind überlastet. Die Untersuchungen der Gesundheitsämter beispielsweise werden trotz gesetzlicher Verpflichtung oftmals nicht durchgeführt, mit dramatischen Folgen. Schließlich müssen wir an die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatleben ran und endlich Bildungsgerechtigkeit durchsetzen.
Allein und aus der Opposition heraus wird DIE LINKE aber keine grundlegenden Änderungen erreichen. Mit wem kann, will und muss sie da zusammenarbeiten?
Wir haben viel aus der Opposition heraus erreicht, indem wir das Thema immer wieder ganz oben auf unsere Agenda gepackt haben und Ministerin Schwesig (SPD) jetzt die Unterhaltsvorschussregelungen verbessern will. Die Bundestagsfraktion wird den politischen Druck weiter erhöhen. Dazu wollen wir eine beratende Kinderkommission einrichten. Sie soll Expertise in und außerhalb der Partei DIE LINKE aus Wissenschaft, Verwaltung und von Betroffenen versammeln und einen »Fünfjahresplan zur Beseitigung der Kinderarmut in Deutschland« erarbeiten.
Es wird bestimmt Skeptiker geben. Einen Plan kann man machen, Aktionen auch – was aber bleibt für den Alltag und auf lange Sicht?
Wir machen doch längst viel mehr, als nur Pläne zu erarbeiten. Mit unseren Landräten und Dezernenten in Kommunen kümmern wir uns konkret um Problemlagen von Familien und Kindern. Wir führen Beratungen durch, und dort, wo wir Verantwortung tragen, versuchen wir konkret, die Situation in den Verwaltungen und Bildungseinrichtungen zu verbessern. Am Ende aber müssen alle in der Politik und darüber hinaus endlich das Problem erkennen und handeln.
Das Interview führte Gisela Zimmer.