Von Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Seit einiger Zeit wird wieder über eine mögliche Impfpflicht debattiert. Dafür? Dagegen? Und warum eigentlich? Unter den Gegnern der Impfpflicht versammeln sich, grob gesprochen, zwei Gruppen. Die erste Gruppe hat nichts gegen Impfungen, ist aber gegen eine staatliche Pflicht zur Impfung. Die andere Gruppe besteht aus den sogenannten „Impfgegnern“. Das sind Leute, die nicht nur nicht glauben, dass Impfungen nichts bringen, sondern die sich allerlei Schadwirkungen ausdenken. In diesen, zum Teil recht esoterischen, Zirkeln sind unseriöse Studien im Umlauf und moralisch zweifelhafte Positionierungen.
Um für letztere ein Beispiel zu bringen: Warum soll ich mein Kind einem Impfrisiko aussetzen, wo doch durch die hohe Impfquote ein geringes Infektionsrisiko besteht? Das ist die Moral des Schwarzfahrers, der nicht aus Armut, sondern aus Geiz heraus ein Fehlverhalten an den Tag legt. Er denkt ja auch, dass die Verkehrsbetriebe nicht zusammenbrechen werden, denn genug andere bezahlen. Ganz analog dürfen genug andere das Impfrisiko tragen, damit ein ausreichend geringes Infektionsrisiko besteht. Derartiges Denken ist nicht sehr moralisch, aber es passt zu einer Gesellschaft, in der die Ellenbogenmentalität oft belohnt wird.
Nun gibt es auch Gegner einer Impfpflicht, die nichts gegen Impfungen haben. Hier bezieht sich die Kritik nicht auf die Impfpraxis selbst, sondern lediglich auf ihre rechtliche Ausgestaltung zur Pflicht. Darin wird eine Einschränkung der Selbstbestimmung gesehen. Aber das leuchtet mir nicht ein.
Selbstbestimmung hat mindestens zwei Dimensionen: Es gibt sie einmal als individuelle Selbstbestimmung, es gibt sie aber auch als politische Selbstbestimmung. Freiheit heißt eben auch, dass die politische Gemeinschaft sich das Gesetz gibt, unter dem sie lebt. Wenn eine demokratische Gesetzgebung eine Pflicht einführt, vor allem dann, wenn intensiv darüber diskutiert wurde, so ist das auch ein Ausdruck von Freiheit. Das ist schließlich der Grund dafür, dass wir beispielsweise Verbote auch da akzeptieren, wo sie uns vielleicht nicht ganz passen.
Aber damit habe ich noch keinen Grund genannt, der für meine Position, die Bejahung einer Impfpflicht spricht. So könnten die Befürworter von Impfungen, die trotzdem Gegner der Impfpflicht sind, starke Aufklärungsarbeit einfordern, sie könnten die Bereitstellung von Kapazitäten einfordern, die eine Impfquote nahe der 100 Prozent ermöglichen usw.
Könnten sie. Aber müssen sie das? Genau das ist die Pointe einer Impfpflicht. Sie verpflichtet nicht nur Eltern, ihre Kinder impfen zu lassen, solange keine konkreten medizinischen Anhaltspunkte dagegen sprechen. Sie verpflichtet auch die Gesundheitspolitik, die nötigen Ressourcen bereitzustellen und Aufklärungsarbeit zu leisten. Für eine solche Impfpflicht trete ich ein.