Heidi Reichinnek ist neue Frauenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. Ein Gespräch über den ökonomischen Kern des Feminismus und einige Projekte der neuen Bundesregierung, die zwar feministisch wirken, es aber nicht sind - vorab aus der April-Ausgabe des Fraktionsmagazins Clara
Clara: Vor dem Einzug in den Bundestag haben Sie in der Kinder- und Jugendhilfe gearbeitet. Helfen Ihnen diese Erfahrungen im Parlament?
Heidi Reichinnek: Es gibt im Bundestag nur wenige Abgeordnete, die aus dem sozialen Bereich kommen und mit Familien und ihren Schwierigkeiten im beruflichen Alltag konfrontiert waren. Ich bin mir sicher, dass es einen Unterschied macht, wenn Politikerinnen und Politiker schon einmal direkte Verantwortung für Familien übernommen haben, die ihre Miete nicht zahlen können, oder für Kinder, die von Gewalt betroffen sind, oder Jugendliche, die aus Perspektivlosigkeit auf die schiefe Bahn geraten. Ich weiß genau, für wen ich hier kämpfe.
Sie sind zur frauenpolitischen Sprecherin gewählt worden. Wie wichtig ist Feminismus heute noch?
Der Feminismus hat eine sehr lange Tradition und wir stehen auf den Schultern von allen, die schon unter viel schlechteren Bedingungen für Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle gekämpft haben. Aber nur, weil schon viel erreicht wurde, dürfen wir uns noch lange nicht zufriedengeben. Frauen erhalten in Deutschland noch immer nicht denselben Lohn für dieselbe Arbeit. Sorgearbeit wird immer noch vor allem von Frauen geleistet, was viel zu viele von ihnen in die Altersarmut drängt. Und solange die Annahme, dass Frauen Entscheidungen über ihren eigenen Körper nicht zuzutrauen sind, weit verbreitet ist, haben wir offensichtlich noch viel zu tun. Über das größte Problem haben wir noch gar nicht gesprochen: Etwa alle zweieinhalb Tage wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Expartner umgebracht. Im Durchschnitt werden stündlich dreizehn Frauen Opfer von Gewalt innerhalb ihrer Partnerschaft. Und die Zahlen steigen sogar.
Wie erklären Sie sich, dass das Phänomen überhaupt noch so weit verbreitet ist?
Leider haben Frauenhass und Sexismus eine noch längere Tradition als der Feminismus. Ich möchte auch nicht immer nur über Frauen als Opfer sprechen. Man kann genauso gut sagen: Männer haben ein Gewaltproblem. Schauen wir uns etwa das Thema Femizide an, die schlimmste Form von Gewalt gegen Frauen: Diese Tötungen, bei denen Frauen umgebracht werden, weil sie eben Frauen sind, werden oft nicht als solche wahrgenommen. Häufig werden sie in den Medien und in der Öffentlichkeit als »Eifersuchtsdramen« oder »Familientragödien« dargestellt. Solche Umschreibungen verdecken die Ursachen; geschlechtsbezogene Machtverhältnisse und strukturelle Aspekte bleiben unsichtbar. Mit solch einem Bewusstsein lässt sich daran nur schwer etwas ändern.
Klar kommt Gewalt gegen Frauen überall in der Gesellschaft vor, egal ob reich oder arm, aber auch in diesem Zusammenhang sind ökonomische Faktoren total wichtig: Frauen sind immer noch viel zu häufig materiell von Männern abhängig. Dadurch entsteht ein Machtungleichgewicht in Familien, in Beziehungen, am Arbeitsplatz … Und wo sollen von Gewalt betroffen Frauen denn hin, bei einem Wohnungsmarkt ohne bezahlbare Mieten? Die Finanzierung des gesamten Hilfesystems für von Gewalt betroffene Frauen ist seit Jahren unterfinanziert und völlig unzureichend. Hier brauchen wir endlich eine bundesweit einheitliche und bedarfsgerechte Finanzierung barrierefreier Schutzhäuser und Beratungsstellen. Auch digitale Gewalt wie Bedrohung, Stalking und Nötigung ist noch ein riesiges unbearbeitetes Feld. Hier habe ich wirklich hohe Erwartungen an die neue Regierung.