Wer jahrzehntelang gearbeitet hat, der sollte mit der Rente seinen Lebensstandard halten können. Das sei finanziell nicht tragbar, behaupten die Mainstream-Parteien felsenfest. Warum wir mit diesem Dogma brechen müssen, erklärt Matthias W. Birkwald.
Der Marktradikalismus ist international seit einiger Zeit eher in der Defensive. Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank, aber auch die Europäische Zentralbank (EZB) haben sich in ihren Statements und ihrem Vorgehen von Ansätzen distanziert, die jahrzehntelang die Politik dominierten. Auch in Deutschland ist der Marktradikalismus auf dem Rückzug. Programme wie Helmut Kohls Sozialkürzungspaket der 1990er Jahre, die Treuhand-Privatisierungen oder Gerhard Schröders Agenda 2010 kämen heute einem parteipolitischen Selbstmordkommando gleich. Auch deswegen präsentierte der Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet jüngst ein Wahlprogramm für die CDU/CSU, das zwar Steuergeschenke an Unternehmen und Besserverdienende vorsieht, aber keine offenen Angriffe auf die sozialen Rechte der Beschäftigten enthält.
Allerdings gibt es einen Bereich der Sozialpolitik, in dem der Marktradikalismus weiterhin prägend bleibt: Bei der Rente. Im Frühsommer 2021 zeichnete ein Renten-Gutachten des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium ein Schreckensbild: Prophezeit wurden »schockartig steigende Finanzierungsprobleme in der gesetzlichen Rentenversicherung ab 2025«. Glaubt man dem federführenden Autor, Professor Axel Börsch-Supan, dann führt kein Weg an der Rente ab 68 vorbei, da die Geburtenrate niedrig bleibt, während die durchschnittliche Lebenserwartung steigt.
In Politik und Medien war die Aufregung erwartungsgemäß groß. Keine Partei traute sich, dem Vorschlag beizuspringen. In der wirtschaftsliberalen FDP wurde die Forderung als »Quatsch« quittiert. Auch die Unionsparteien übernahmen sie nicht in ihr Wahlprogramm. Den Marktradikalen kam dieser Vorstoß dennoch gerade recht. Denn zunächst lässt er die Programmatik aller Parteien, die das Niveau der gesetzlichen Rente nicht anheben wollen, als vergleichsweise sozial erscheinen. Und auf längere Sicht setzt der Vorschlag im Wesentlichen den Tenor fort, der die Rentenpolitik in Deutschland seit inzwischen zwanzig Jahren bestimmt.
Marktradikaler Kurswechsel
Beim Schlagwort »Marktradikalismus« denken Viele sofort an die Agenda 2010. Der Angriff auf die gesetzliche Rente begann allerdings schon Jahre früher in der ersten Legislaturperiode unter Rot-Grün (1998-2002). Ausgerechnet eine SPD-geführte Bundesregierung brach das Versprechen, das 1957 bei der Reform der gesetzlichen Rente in der Nachkriegszeit unter Bundeskanzler Adenauer (CDU) ausdrücklich im Regierungsentwurf festgehalten wurde. Dieses sollte garantieren, dass »der Versicherte als Rentner ... den Lebensstandard aufrechterhalten kann, den er im Durchschnitt seines Arbeitslebens« hatte. Anstatt an dieser grundsätzlichen Zielvorgabe der gesetzlichen Rente festzuhalten, setzte Rot-Grün die Weichen in Richtung marktradikaler Reform.
Zunächst wurde die Beitragsstabilität der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) der Lebensstandardsicherung übergeordnet. Damit folgte man dem wirtschaftsliberalen Glaubenssatz, »zu hohe Lohnnebenkosten« würden die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze verhindern. Aber »Lohnnebenkosten« sind Teil des Lohns, nämlich derjenige, den die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber direkt an die gesetzlichen Sozialversicherungen überweisen. Faktisch wurde so ein Teil der Alterssicherung auf die Beschäftigten abgewälzt. Denjenigen Teil der Rente, der nicht mehr durchparitätische Beiträge finanziert würde, sollten die Beschäftigten aus ihren Nettolöhnen bezahlen. Wer nachrechnete, stellte aber fest: Nach der Reform müssen Beschäftigte unterm Strich mehr bezahlen, um das gleiche Sicherungsniveau im Alter zu erreichen.
Außerdem wurden die gesetzlichen Renten von der Lohnentwicklung abgekoppelt, indem Faktoren in die Rentenformel eingebaut wurden, die die Renten tendenziell immer weiter hinter der Lohn- und Einkommensentwicklung zurückfallen lassen. Und schließlich sollte eine kapitalmarktbasierte Alterssicherung die gesetzliche Rente nicht mehr – wie bisher – nur ergänzen. Sie sollte sie in Teilen ersetzen und wurde dazu aus öffentlichen Mitteln gefördert. Von diesen »Reformen« haben nicht, wie versprochen, die Beschäftigten und die Rentnerinnen und Rentner profitiert, sondern vor allem die Finanzbranche.
In nahezu allen anderen Bereichen ist die marktradikale Politik seit einigen Jahren auf dem Rückzug. Es gibt einen gesetzlichen Mindestlohn, auch wenn dessen Höhe noch nicht armutsfest und existenzsichernd ist. Prekarität am Arbeitsmarkt wagt sich mittlerweile niemand mehr offensiv zu verteidigen. Auch die Schuldenbremse im Grundgesetz wird inzwischen nicht mehr nur von Gewerkschaften und der LINKEN kritisiert. Die aufgeklärten unter den Chefideologen und Chefideologinnen des Kapitals haben begriffen, dass notwendige Investitionen zur Modernisierung und Entkarbonisierung der Wirtschaft nicht ohne Kredite umzusetzen sein werden. Mittlerweile ist selbst ihnen aufgefallen, dass sich Deutschland aktuell sogar gewinnbringend Geld leihen kann.
In die Rentenpolitik ist dieser Kurswechsel jedoch noch nicht vorgedrungen. Es bleibt ein Langstreckenlauf, will man die marktradikalen Reformen rückabwickeln. Was wir brauchen, ist eine gesetzliche Rente, die das Versprechen der Lebensstandardsicherung nach der Erwerbsarbeitsphase auch einhält – so, wie es bereits bei der Rentenreform von 1957 vorgesehen war.