Tarifverträge sorgen für gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne. Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnisse durch einen Tarifvertrag geregelt sind, stehen besser da als Beschäftigte in Betrieben ohne Tarifbindung. Doch die Zahl derjenigen, die unter den Schutz eines Tarifvertrages fallen, nimmt beständig ab. Besonders drastisch ist die Entwicklung im Einzelhandel. Immer mehr Unternehmen in der Branche verweigern sich dem Abschluss von Tarifverträgen oder entziehen sich bestehenden Tarifverträgen. Zuletzt traf es zum Beispiel die Beschäftigten der Buchhandelskette Thalia. In einem Schreiben an die Beschäftigten teilte die Unternehmensleitung zum Jahresbeginn 2021 aus heiterem Himmel mit, dass Thalia aus der Tarifbindung aussteigt. Mit einer kurzfristigen Unternehmensumstrukturierung hatten sie den Weg dorthin geebnet und sich dabei ein rechtliches Schlupfloch zunutze gemacht.
Insgesamt verloren zwischen 2010 und 2019 fast die Hälfte (44 Prozent) der Beschäftigten im Einzelhandel den Schutz eines Tarifvertrags. Dies belegt eine Anfrage des gewerkschaftspolitischen Sprechers der Fraktion DIE LINKE, Pascal Meiser an die Bundesregierung. Bemerkbar macht sich diese Tarifflucht auch bei den Löhnen: Diese sind im Einzelhandel schon traditionell deutlich niedriger als in der Gesamtwirtschaft. In den vergangenen zehn Jahren hat sich dieser Trend allerdings noch verschärft: Die Lohnlücke zur Gesamtwirtschaft ist alleine zwischen 2010 und 2019 von 631 Euro auf 805 angestiegen.
„Hauptverantwortlich für diese Entwicklung ist der drastische Rückgang der Tarifbindung in der Branche und der Druck, den dies auch auf die noch tarifgebundenen Unternehmen ausübt“ konstatiert Pascal Meiser.
Seit März führt die Gewerkschaft ver.di zeitlich versetzt in den verschiedenen Bundesländern mit den noch tarifgebundenen Arbeitgebern Tarifverhandlungen für die fast 3 Millionen Beschäftigten der Branche. Die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften fordern anständige Lohnerhöhungen und insbesondere ein Plus für die untersten Einkommensgruppen. Denn trotz der Corona-Krise hat der Einzelhandel insgesamt kräftige Umsatz- und Gewinnsteigerungen aufzuweisen. Vor allem der Lebensmittel- sowie der Versand- und Onlinehandel sind Krisengewinner. Weil aber auch die Beschäftigten wissen, dass es auch eine Reihe von Einzelhandelsunternehmen gibt, die durch die Pandemie in Schieflage geraten sind, bieten ver.di diesen Unternehmen im Rahmen eines neu abzuschließenden Tarifvertrags auch passgenaue Lösungen an, mit denen verhindert wird, dass nachweislich in Not geratene Unternehmen übermäßig belastet werden.
Darüber hinaus fordern die Beschäftigten und ihre Gewerkschaft, die Tarifverträge im Einzelhandel für allgemeinverbindlich zu erklären. Auf diesem Wege könnten die Tarifverträge auf alle Unternehmen der Branche zwingend erstreckt und so das Lohndumping durch Tarifflucht gestoppt werden.
„Wer es mit dem in der Corona-Krise viel bekundeten Respekt für Verkäuferinnen und Verkäufer ernst meint, der muss für höhere Löhne im Einzelhandel sorgen. Die großen Einzelhandelskonzerne, die während der Pandemie riesige Extra-Profite gemacht haben, sind hier in besonderer Verantwortung“, erklärt Pascal Meiser. „Zudem muss die Bundesregierung jetzt endlich die gesetzlichen Grundlagen schaffen, damit Tarifverträge künftig auch gegen die Blockadehaltung der Arbeitgeberseite für allgemeinverbindlich erklärt werden können.“
Bis Ende der 1990er Jahre waren die wesentlichen Tarifverträge im Einzelhandel für allgemeinverbindlich erklärt. Damit galten ihre Bestimmungen auch für diejenigen Unternehmen der Branche, die dem Arbeitgeberverband nicht angehörten. Doch seitdem blockiert die Arbeitgeberseite die weitere Allgemeinverbindlichkeit dieser Tarifverträge. Um diese Blockadehaltung umgehen zu können, müssen die rechtlichen Voraussetzungen für eine solche Allgemeinverbindlichkeit erleichtert werden. Das haben auch die Bundesländer Berlin, Bremen und Thüringen, in denen DIE LINKE mit in der Regierung sitzt, vor kurzem im Bundesrat beantragt, doch die Bundesregierung bleibt hier bisher untätig. „Es ist ein Armutszeugnis, dass Arbeitsminister Hubertus Heil allen Versprechungen zum Trotz bisher keinerlei Maßnahmen ergriffen hat, um die Tarifbindung im Einzelhandel wieder zu verbessern“, so Meiser. „Die Verkäuferinnen und Verkäufer haben zurecht die Nase gestrichen voll, dass ihnen die Bundesregierung zu Beginn der Pandemie stehenden Applaus spendete, aber nichts tut, um gegen Tarifflucht und Lohndumping im Einzelhandel vorzugehen."
DIE LINKE kämpft bereits seit langem zusammen mit den Gewerkschaften für eine Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen und hat dazu wiederholt konkrete Vorschläge und entsprechende parlamentarische Initiativen auf den Weg gebracht.