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Gregor Gysi im Interview © dpaFoto: dpa

Gregor Gysi: "Situation in Katar kann ich als Fußball-Fan nicht ignorieren"

Im Wortlaut von Gregor Gysi, Abendzeitung München,

Am Sonntag beginnt die WM. Exklusiv in der AZ spricht Politiker Gregor Gysi über das Turnier und die Menschenrechtsverletzungen. "Ich hoffe, dass die Nationalmannschaften ein Zeichen setzen werden."

 

Abendzeitung München: Herr Gysi, eine Frage an Sie als Fußball-Fan: Freuen Sie sich auf die WM?
Gregor Gysi: Nein, eine unbeschwerte Vorfreude herrscht bei mir keineswegs. Wenn ich die Zeit habe, werde ich mir aber trotzdem das ein oder andere Spiel im Fernsehen anschauen. Die Situation in Katar bezüglich der Menschenrechte und der toten Wanderarbeiter kann ich aber auch als Fußball-Fan nicht ignorieren. Darum hoffe ich, dass auch die Nationalmannschaften ein Zeichen setzen werden. Dass sie sich eine schwarze Binde anziehen oder sich vor Anpfiff niederknien, im Gedenken an die 15 000 Menschen, die gerade auch beim Bau der Stadien gestorben sind. Das hätte eine wichtige Symbolik, das wären Gesten, zu denen auch die Funktionäre der nationalen Verbände die eigenen Spieler durchaus ermutigen könnten.

Hätten Sie es eigentlich begrüßt, wenn die Fifa angesichts der Korruptionsvorwürfe, der Stimmenkäufe, aber auch der Menschenrechtslage wegen Katar die WM wieder entzogen hätte?
Die Fifa hätte die WM gar nicht erst nach Katar vergeben dürfen. Spätestens bei den ersten Meldungen zu toten Arbeitern hätte der Weltverband eingreifen und sagen müssen: Stopp! Wir vergeben die WM 2022 noch mal neu an ein anderes Land. Dass für eine Fußball-Weltmeisterschaft so viele Menschen sterben müssen, das ist doch Wahnsinn.

Aber auch ein Beleg dafür, dass Fußball im wahrsten Wortsinn ein Geschäft geworden ist, das über Leichen geht.
Sie haben Recht. Der Sport ist bei einer WM oder auch bei Olympischen Spielen vorwiegend großes Business, das bei den Fans für immer mehr Entfremdung sorgt. Höchste Zeit, das Rad zurückzudrehen und Wege zu finden, wie man den Sport wieder entkommerzialisiert. Die Mitglieder in der Fifa und im IOC sollten schleunigst darüber nachdenken, wie man den Sport den Menschen dadurch noch näherbrächte.

Das klingt nach schönem Idealismus, aber denken Sie wirklich, das liegt im primären Interesse der Funktionäre?
Die Fifa ist ein sehr gehobener und abgehobener Veranstaltungsverein, in dem sich viele reiche Leute treffen und bei dem ich mir nicht sicher bin, ob sich wirklich jeder auch für Fußball interessiert. Es muss dort in jedem Fall gründlich aufgeräumt werden. Die Fifa muss von Grund auf reformiert werden, sonst nimmt man den Milliarden Fans weltweit immer mehr die Freude an diesem schönen Spiel.

Zur Positionierung und zur Form des Protests kam es zu kontroversen Debatten, unter anderem über die mehrfarbige Kapitänsbinde einiger Nationen. Kritiker bemängelten den halbgaren Kompromissentwurf und den fehlenden Mut zu einer Binde in den LGBTQ-Regenbogenfarben.
Ich konnte diese Lösung auch nicht nachvollziehen. Warum hat die Fifa nicht einfach gesagt: Alle Kapitäne aller Nationen dürfen die Regenbogenbinde tragen. Dann hätten sich die Veranstalter in Katar aufregen können wie sie wollten, die WM hätten sie deswegen nicht zurückgegeben, das wäre schlecht fürs Image gewesen - und außerdem geht's dort natürlich um viel Geld. Es geht ja auch nicht darum, den Menschen in Katar unsere Werte aufzudrücken und sie mit einer Symbolik zu provozieren.

Aber Werte zu Gleichberechtigung unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung sind doch nicht verhandelbar. Der beste Beleg dafür, dass man in Katar in einer recht repressiven Gesellschaft lebt, lieferte WM-Botschafter Khalid Salman, der im ZDF Homosexualität als "geistigen Schaden" bezeichnete. Was empfinden Sie bei derartigen Äußerungen?
An dem Mann ist die Zeit vorbeigegangen. Da er von Homosexualität nichts versteht, sollte er besser schweigen. Im Unterschied zu Schwulen stimmt bei ihm mit dem Geist etwas nicht.

Hätten Sie sich gewünscht, dass qualifizierte Nationen dem Turnier fernbleiben oder die WM komplett boykottiert wird?
Nein, ein Boykott bei sportlichen Großveranstaltungen hat noch nie etwas gebracht. Das haben wir in Moskau 1980 und in Los Angeles 1984 gesehen. Die Leidtragenden waren nur die Sportler, die daheim bleiben mussten. Rein politisch war das sinnlos. Ich war schon immer dafür, dass man Gespräche führt, dass man den Dialog sucht, dass sich die Gäste aus aller Welt mit den Menschen vor Ort austauschen und sich etwa die Besucherinnen aus dem Ausland mit einheimischen Bewohnerinnen treffen. Dann können die einen erzählen, welche Rechte die Frauen in ihrem Land haben. Und die anderen, welche Rechte die Frauen in Katar nicht haben. Sportliche Großveranstaltungen haben durch solche Begegnungen immer die Chance, innerhalb der Gesellschaft des Gastgeberlandes neue Perspektiven aufzuzeigen und Veränderungen anzustoßen. Ohne etwa gleichzusetzen, wenn wir in der DDR die Weltfestspiele der Jugend hatten und selbst die Junge Union aus dem Westen anreiste, dann wurde alles zumindest für diese Zeit offener und lockerer. Wir profitierten selbst von den Begegnungen, es erweiterte unseren Horizont. Und ganz zurückgedreht wurde das Rad danach auch nicht mehr.

Die These, nur durch Dialog vor Ort Dinge verändern zu können, stützt ja die Argumentation des FC Bayern, der genau damit den Sponsoren-Deal mit Qatar Airways immer verteidigt.
Naja, ehrlich gesagt finde ich diesen Sponsor nicht wirklich glücklich. Der FC Bayern hat sich ja ganz bewusst für diesen Partner entschieden, und da stelle ich mir schon die Frage, ob das wirklich sein musste und ob sich der Klub bei der anhaltenden Kritik aus der Öffentlichkeit, aber auch von eigenen Fans wirklich einen Gefallen damit getan hat. Ich würde mich freuen, wenn der FC Bayern einen Sponsor fände, über den man sich weniger empört.

Bayerns Ehrenpräsident Uli Hoeneß echauffierte sich bei seinem Anruf im Sport1-Doppelpass, nur durch die WM hätten sich die Arbeitsbedingungen vor Ort verbessert.
Es sind 15 000 Menschen gestorben. Gerade auch wegen der WM. Aber es stimmt, es wurde inzwischen einiges geändert. Ich schätze es an Uli Hoeneß, dass er keine Hemmungen kennt und sich offen äußert und aufregt. Lieb wäre mir nur, wenn er sich mit dieser Inbrunst noch deutlicher über die Fifa aufregte und die Funktionäre dort anzählte. Das fände ich sehr passend.

Immer sehr diplomatische Töne muss hingegen meist die Politik einschlagen, wie kürzlich auch Wirtschaftsminister Habeck, als er in Katar neue Energieverträge aushandelte.
Das ist auch wichtig, mit Ländern auf diplomatischer Ebene zu sprechen, die ein anderes Verständnis von Demokratie und Menschenrechten haben. Das gehört zur Politik. Gestatten Sie mir bitte nur eine Bemerkung zu den Energielieferungen?

Gerne.
Ich kann es ja verstehen, wenn wir nicht einseitig von Russland abhängig sein wollen. Dass wir uns nun aber von Katar und Saudi-Arabien abhängig machen wollen, das kann ich nicht nachvollziehen. Ob die Wahl dieser Staaten als Ersatz zu Russland auch aus moralischer Sicht brillant ist, daran habe ich meine Zweifel. Und wenn Russland sein Erdöl nun an Indien liefert, und wir kaufen das russische Erdöl für teureres Geld dann in Indien ein, muss mir einer mal erklären, was der Blödsinn soll. Ich verurteile Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine genauso scharf wie die meisten anderen Menschen in Europa. Wenn wir uns aber geostrategisch mit der Friedensordnung in Europa beschäftigen, müssen wir festhalten: Es geht niemals ohne und erst recht nicht gegen Russland. Da müssen wir nochmal genau nachdenken.

In der Kritik steht auch der Iran, sowohl wegen seiner Drohnenlieferungen an Russlands Militär als auch wegen des Todes von Mahsa Amini, die wegen eines nicht korrekt sitzenden Kopftuchs von der Sittenpolizei verhaftet worden war. Hätte man den Iran ausschließen sollen von der WM?
Auf keinen Fall. Allein durch die Live-Übertragungen der Spiele in den Iran ergibt sich für die gegnerischen Mannschaften die Möglichkeit für symbolische Bekundungen, sich mit den Frauen im Iran zu solidarisieren. Natürlich müssen solche Aktionen plötzlich und spontan kommen, dass das staatliche Fernsehen gar nicht schnell genug dazwischenfunken und abschalten kann und die Menschen im Iran das auch mitbekommen und sich bestärkt fühlen in ihrem Widerstand gegen das Mullah-Regime.

Falls die deutsche Mannschaft nun das Endspiel erreicht, sollte Kanzler Scholz nach Doha reisen und sich neben den Emir auf die Tribüne setzen?
Darf er gerne, auch wenn das deutsche Team nicht im Finale steht. Er sollte das aber mit Gesprächen vor Ort verbinden, er muss dem Machthaber ja nicht gleich um den Hals fallen, sondern über unterschiedliche Sichten deutlich aufklären.

Ein Ausblick noch weiter in die Zukunft, zu einem freudigeren Thema als Katar, nämlich zu Ihren Eisernen. Haben Sie sich den 27. Mai schon rot angestrichen im Kalender, der letzte Spieltag der Saison, wenn Union Berlin im Heimspiel gegen Werder Bremen trotz jüngster Rückschläge vielleicht doch die Deutsche Meisterschaft sichert?
So ganz glaube ich daran nicht. Dass wir eine Weile vor den Bayern standen, war schon wunderschön. Und wenn es doch klappen sollte, dann rufe ich Uli Hoeneß an - und gratuliere ihm zum zweiten Platz.

Darüber wird er sich bestimmt herzlich freuen. . .
Denke ich auch. Vermutlich haut er mir dann den Hörer um die Ohren.

Hat das Rathaus in Köpenick eigentlich einen schönen Balkon für die Meisterfeier?
Hat es. Dort ließ sich die Mannschaft schon im Mai 2019 für den Aufstieg in die Bundesliga feiern. Ansonsten hat Köpenick auch ein schönes Schloss, das wäre sicher auch ein würdiger Rahmen. Oder am besten gleich am Roten Rathaus bei der Regierenden Bürgermeisterin in Berlin-Mitte. Als Symbol, dass es eine Meisterschaft ist, die von allen Berlinerinnen und Berlinern gerade auch beim 1. FC Union geschätzt wird.

Abendzeitung München,