Wie der frischgebackene Außenpolitiker Gregor Gysi die Linke doch noch regierungsfähig machen will. Artikel von Robert Pausch in DIE ZEIT Nr. 33.
Neulich saß Gregor Gysi im Bundestag und hatte Hunger. Der Auswärtige Ausschuss, der immer frühmorgens tagt, war zusammengekommen, und Gysi, der das Intervallfasten für sich entdeckt hat, hatte seit sechzehn Stunden nichts gegessen. Also machte er sich auf den Weg in die Kantine, holte sich ein Brötchen und setzte sich wieder an seinen Platz, was insofern unüblich war, als im Auswärtigen Ausschuss anders als in anderen Ausschüssen bislang nicht gegessen wurde. Aber das wusste Gysi da noch nicht. Er war ja neu hier.
Ob das für ihn Sozialismus sei, wollte der Ausschussvorsitzende und CDU-Abgeordnete Norbert Röttgen von Gysi wissen, als Einziger zu essen, während die anderen arbeiten.
"Sozialismus ist für mich, wenn Sie mich zum Essen einladen", antwortete Gysi.
Wenn er diese Geschichte ein paar Wochen später in seinem Büro erzählt, kann er über seinen eigenen Witz noch immer ziemlich zufrieden kichern. Gregor Gysi ist wohl der einzige Linke, den die Bild-Zeitung eine "Kultfigur" nennt. Einer, zu dessen 70. Geburtstag Zeitungen seine 70 besten Zitate abdrucken. Seit der Sitzung, sagt er, habe sich allerdings etwas verändert. Im Ausschuss würden nun oft eine Handvoll Leute frühstücken. Ein kulinarisches Reförmchen, immerhin.
Gregor Gysi ist jetzt 72 Jahre alt. Es ist ein Alter, in dem sich andere ein E-Bike kaufen oder eine Kreuzfahrt zum Nordkap unternehmen. Gregor Gysi hat weder ein E-Bike, noch geht er auf Kreuzfahrt. Er hat einen neuen Job. Seit gut zwei Monaten ist er außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag.
Auf den ersten Blick wirkt das so, als würde Volkswagen-Chef Herbert Diess nun die VW-Niederlassung in Baunatal leiten. Denn Gregor Gysi ist nicht nur einer der bekanntesten Politiker des Landes. Er ist ein Mann, durch den die Geschichte schon mehrfach hinein- und wieder hinausgegangen ist. Der Sohn des DDR-Kulturministers, der zum Oppositionellen-Anwalt wurde und später gegen Stasi-Vorwürfe zu kämpfen hatte. Der eine hoffnungslose Partei übernahm, sie verwandelte, demokratisierte und vom Osten in den Westen führte. "Wer die deutsche Einheit haben will, muss sich auch mit mir abfinden", rief er vor über zwanzig Jahren im Bundestag.
Eigentlich war Gysi selbst schon eine historische Figur.
Jetzt ist er fachpolitischer Sprecher. Einer von Dutzenden in der Bundestagsfraktion der Linken. Warum tut er sich das an?
Die erste Antwort lautet: Weil die AußenpolitikfürGysi nicht irgendeine Frage ist, sondern so etwas wie der Anwendungsfall für sein Lebensthema – die Entschmuddelung seiner Partei, die Verwandlung des Geächteten zum Geachteten, mit dem Ziel einer rot-rot-grünen Machtperspektive im Bund. "An uns darf eine Mitte-links-Option nicht scheitern", hatte Fraktionschef DietmarBartsch zu Gysi gesagt, als er ihn bat, das Amt zu übernehmen.
Die zweite Antwort gibt Gysi selbst: "Ich bin wild entschlossen, das Alter zu genießen. Ich weiß nur noch nicht genau, wann es beginnt."
Man müsste, so viel ist klar, eine masochistische Ader haben, wollte man Gysis neuen Job mit Genuss in Verbindung bringen. Denn seit je ist die Außenpolitik ein Bereich der konsequenten und rückhaltlosen Selbstzermarterung für die Linke, eine Partei, die sich eigentlich längst bundesrepublikanisiert hat. Sie stellt Bürgermeister, Minister und sogar einen Ministerpräsidenten. Die Partei ist, so sagen es ihre Vorsitzenden, in einer dritten Phase ihrer Entwicklung: von der ostdeutschen Interessenpartei zur gesamtdeutschen Protestpartei zur potenziellen Regierungspartei.
Nur in der Außenpolitik gilt all das nicht.
Die Außenpolitik ist, je nach Betrachtungswinkel, ein Museum überkommener Orthodoxie – oder das letzte Feld eigener Unverwechselbarkeit. DieLinke ist: gegen jeden Einsatz deutscher Soldaten im Ausland, gegen jede Form der Rüstungsexporte, gegen die Nato und für eine "neue Entspannungspolitik" gegenüber Russland.
Das sind zunächst bloß Forderungen. Das Entscheidende aber ist die Haltung, die sich hinter ihnen verbirgt. Denn in der Außenpolitik geht es für viele in der Linken nicht um Abwägungen und Interessen. Es geht um die Identität, die eigene und die der Partei. Und wie man heute weiß, bedeutet Politik mit Identitäten bisweilen auch: Kompromisslosigkeit, moralische Selbsterhöhung und eine gewisse Vorliebe zum Denken in Freund-Feind-Schemata.
Gysi verwandelt die Ausrufezeichen seiner Partei in Fragezeichen
Ein Anruf bei Sevim Dağdelen, die gerade den Sommer an der Ostsee verbringt. Am Telefon hört man die Möwen krähen und ein paar echte Dağdelen-Sätze: "Es gibt schon fünf Kriegsparteien im Bundestag. Die Linke ist die einzige Friedenspartei. Dafür werden wir gewählt." Dağdelen ist eine direkte, humorvolle Frau, aber sie ist auch ein besonderer Fall linker Unerbittlichkeit. Und sie gibt in der Bundestagsfraktion als Außenpolitikerin bislang den Ton an.
Dağdelen sagt, aus der Geschichte der politischen Linken lasse sich Folgendes lernen: "Zuerst wird versucht, die friedenspolitischen Positionen nach rechts zu verschieben, und dann andere Programmteile wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik." Gerade deswegen dürfe man hier nicht kompromisslerisch sein. "Wer bereit ist, zum Zwecke einer imaginären Regierungsfähigkeit Auslandseinsätzen der Bundeswehr zuzustimmen, sollte konkret sagen, bei welchen Einsätzen. Und dann die Position zur Abstimmung stellen." Sie sei sicher, sagt Dağdelen, "dass die Linke diese Selbstaufgabe nicht mitmacht".
Gregor Gysi gehört zu jenen in der Partei, die das alles grundsätzlich anders sehen. Schon vor zwanzig Jahren stritt er als Fraktionschef mit seinen Genossen darum, dass sie sich UN-mandatierten Einsätzen öffnen sollten. Vor vier Jahren zeigte er sich offen gegenüber Waffenlieferungen an die kurdischen Kämpfer im Irak, vor fünf Jahren forderte er von seiner Partei, die Auslandseinsätze im Bundestag einzeln zu prüfen und nicht grundsätzlich abzulehnen. In seiner Partei wurde er dafür als "Kriegstreiber" beschimpft. Heute sitzt Gysi in seinem Büro und sagt einen seiner Lieblingssätze: "Wer nicht kompromissfähig ist, ist auch nicht demokratiefähig." Das gelte selbstverständlich auch für die Außenpolitik.
Natürlich, sagt er, sei es richtig, dass die Linke gegen Kriegseinsätze sei. Aber wäre den Afghanen wirklich geholfen, wenn die Deutschen nun von heute auf morgen ihre Truppen abzögen? Natürlich sei auch er gegen Rüstungsexporte. Aber wenn sich ein vollständiger Stopp nicht durchsetzen lasse, sei es dann nicht ein Fortschritt, wenn die Waffen nicht mehr wie bisher an Diktaturen und Kriegsparteien geliefert würden?
Gysi verwandelt die Ausrufezeichen seiner Partei in Fragezeichen, aus den Dogmen wird Verhandlungsmasse. In der Theorie lassen sich so Kompromisse mit SPD und Grünen leicht erkennen. In der Praxis aber ist Gysi Mitglied einer Partei, die die magische Kraft besitzt, jeden Anflug von Flexibilität im Handumdrehen in eine Verratsdebatte zu verwandeln.
In seinem Büro erzählt Gysi, wie er neulich mit einem Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas zusammensaß. Irgendwann sei das Gespräch auf die Lage der Uiguren gekommen. Die muslimische Minderheit wird in China brutal unterdrückt. Natürlich, sagt Gysi, hätte er da sofort die Menschenrechtsverletzungen kritisieren können, dann wäre das Gespräch allerdings auch gleich zu Ende gewesen. "Stattdessen habe ich gesagt: Ihr habt doch nach den Unruhen in Tibet eine kluge Politik gemacht. Ihr habt die Jugend privilegiert, sie in Peking studieren lassen. Warum macht ihr das bei den Uiguren nicht genauso?" Die Chinesen, sagt er, hätten zwar nach dem Treffen nicht sofort ihre Politik geändert. "Aber wer die Verhältnisse verändern will, braucht erst mal ein gutes Verhältnis." Gysi, das soll diese Anekdote bezeugen, weiß schon, wie das geht mit der Diplomatie.
Nun gibt es in der Linksfraktion im Bundestag zwar kein Politbüro. Aber es gibt den Arbeitskreis VI, der zuständig ist für "Internationales" und es, was Traditionsbewahrung und Dogmenpflege angeht, durchaus mit einem durchschnittlichen KP-Gremium aufnehmen kann. Hier sitzt zum Beispiel Alexander Neu, der vor Kurzem bei einer Veranstaltung den Eindruck erweckte, die Homosexuellenverfolgung in Russland sei eine Erfindung westlicher Medien. Hier sitzt Andrej Hunko, der sich 2015 mit Separatisten in der Ostukraine fotografieren ließ. Die Vorsitzende ist Heike Hänsel, die es beim Europa-Parteitag im vergangenen Jahr für geboten hielt, sich mit einer Protestaktion gegen den "US-Putschversuch" in Venezuela zu wenden, ohne dabei ein kritisches Wort über den diktatorischen Staatschef Nicolás Maduro zu verlieren. "Vorwärts zum Sozialismus" stand auf einem Plakat.
Erkundigt man sich im Arbeitskreis nach Gregor Gysi, kann man den Eindruck bekommen, dass das, was er unter diplomatischem Geschick versteht, hier eher als ein Ausdruck machtpolitischer Schwäche betrachtet wird.
Man sei erst einmal skeptisch gewesen, als Gysi den Sprecherposten übernahm, erzählt ein Mitglied des Arbeitskreises. "Alle anderen Parteien verjüngen sich, und wir holen die Rentner." Aber mittlerweile sei man recht einverstanden mit ihm. "Früher war Gregor der kleine Monarch. Jetzt muss er sich unterordnen. Und das macht er auch. Er hat kein Interesse an Stress." Alexander Neu sagt, Gysi sei "harmonieorientiert" und "sehr integrierend". Seine persönlichen Haltungen stelle er zurück. "Er weiß, welche Schlachten man nicht führen sollte", sagt Neu.
"Entscheidend ist, dass wir eine Haltung entwickeln, die glaubwürdig ist"
Doch die Frage ist eher, ob er überhaupt gekommen ist, um zu kämpfen.
Gregor Gysi mag ein außergewöhnlicher Politiker sein. Aber er ist auch Teil eines recht profanen Problems seiner Partei: der institutionalisierten Apathie. Zwar gibt es in der Bundestagsfraktion eine übergroße Mehrheit an Abgeordneten, die sich wie Gysi die Linke als reformsozialistische Partei mit Regierungsambitionen wünschen. Doch sie sind, erstens, untereinander mehrfach zerstritten, darum, zweitens, machttaktisch mit unterschiedlichen Fundamentalisten verbandelt, was, drittens, dazu führt, dass die Partei feststeckt. Strategisch, demoskopisch, politisch.
Jan Korte, einer der Weitsichtigsten in der Linken, der einst wegen des Kosovo-Kriegs bei den Grünen austrat, fasst das Dilemma seiner Partei gern so zusammen: "Ich habe noch nie einen Arbeiter getroffen, der sich morgens vor Schichtbeginn fragt: Wie komme ich am schnellsten aus der Nato raus?" Für viele in der Partei ist der außenpolitische Dogmatismus in erster Linie Folklore. Ein Überbleibsel insbesondere des westdeutschen Postkommunismus, der – im Gegensatz zur PDS im Osten – immer eine Splitterbewegung war, ohne Verankerung in der Gesellschaft und dafür umso interessierter an allem, was möglichst weit weg war von Deutschland. Die ostdeutschen Linken kümmern sich im Bundestag um Verkehrs- und Sozialpolitik. Die Ex-K-Gruppler um "den Frieden". Bis heute prägt eine Minderheit den Kurs der Mehrheit.
So hat man bisweilen das Gefühl, in ein Paralleluniversum geplumpst zu sein, wenn man sich mit der Linken beschäftigt. Die Vereinigten Staaten mögen längst einer isolationistischen Doktrin folgen. Die Linke jedoch tut so, als wären die USA vergangene Woche im Irak einmarschiert. Aus China und Russland mögen kapitalistische, autoritäre und imperialistische Staaten geworden sein. Doch manche Linke erkennen hier noch immer die menschenfreundlichen Systemalternativen. Und auch wenn in Venezuela ein korrupter Diktator herrscht, geht es für einige in der Partei hier "vorwärts zum Sozialismus".
Die Linke ist eine Partei, die ihre Kraft aus dem Gestern schöpft. Je rasanter sich die Dinge um sie herum verändern, desto regungsloser wirkt sie. Und so erleichtert es die Partei gerade in der Außenpolitik allen anderen, sie zu dem Paria zu machen, der sie eigentlich nicht mehr ist.
"Entscheidend ist, dass wir eine Haltung entwickeln, die glaubwürdig ist", sagt Gysi. Es könne nicht sein, dass die Linke auf der einen Seite Menschenrechtsverletzungen schwer rügt und sie in Venezuela, Russland oder China immer wieder übersieht. Die Menschenrechte und das Völkerrecht müssten uneingeschränkt gelten. "Ihr dürft nicht die Objektivität verlieren", habe er den Unerbittlichen in seiner Partei immer wieder gesagt.
Gregor Gysi war in seinem Leben länger Fraktionschef der Linken als Herbert Wehner bei der SPD. Er ist der letzte Patriarch einer antipatriarchalen Partei und wäre, das sagen viele, noch immer in der Lage, einen Parteitag zu überzeugen und einen Kurswechsel herbeizuführen. Bloß dürfte das allein mit Diplomatie und Jovialität nicht gelingen.
Als das Gespräch eigentlich schon vorbei ist, nachdem er knapp zwei Stunden durch Pointen und Schelmengeschichten gehüpft ist, sagt Gysi plötzlich einen ernsten Satz, der wegführt von der Parteitaktik und Außenpolitik und zurück zu Gysi selbst: "Ich wurde 1990 behandelt wie der letzte Dreck." Als er mit der PDS in den Bundestag kam, riefen seine Gegner im Plenum "Stasi-Bonze". Wenn er ans Rednerpult trat, feixten sie, oft musste er gegen die Zwischenrufe anbrüllen. Heute füllen seine Witze Zeitungsseiten. Damals sprach Gysi von einem "konzertierten Vernichtungsfeldzug", bei dem es schwer sei, gute Laune zu behalten.
Er sagt, schon allein deswegen wäre es ihm eine Freude, noch einmal in seinem Leben bei Sondierungsgesprächen im Bund dabei zu sein.
Ganz zu Beginn des Gesprächs hatte Gysi über Izchak Rabin gesprochen, den israelischen Präsidenten, mit dessen Ermordung der Friedensprozess im Nahen Osten faktisch zu Ende ging. Es fasziniere ihn, hatte Gysi gesagt, dass Geschichte sich nicht immer nur nach Strukturen und Prozessen vollziehe. Manchmal hänge es doch an einer einzigen Person.