Der große Saal, in dem normalerweise der Gesundheitsausschuss des Bundestages debattiert, war gut gefüllt, als am 14.12.2018 ein sehr ausführliches Fachgespräch zu Arzneimittel- und Menschenversuchen an Heimkindern in den 1950er bis -70er Jahren stattfand. Auf Einladung der Linksfraktion wurde diese bislang noch wenig beachtete Thematik in den Deutschen Bundestag geholt und (inklusive der vorangehenden Pressekonferenz) sechs Stunden lang erörtert.
Im Publikum nahmen Dutzende von Heimkindern an der hoch emotionalen und lebhaften Diskussion teil, nachdem zunächst ein Reihe von Expert*innen Einzelheiten ihrer Forschungen zu Heimkindern, gesellschaftlichen Hintergründen, Folgen, rechtlichen Aspekten der grauenhaften Vorkommnisse sowie zu Forderungen der Betroffenen und Misshandelten vorgetragen hatten (Programmheft als PDF).
Vier Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE (neben Sylvia Gabelmann als Sprecherin für Arzneimittelpolitik und Patientenrechte noch Susanne Ferschl, die Leiterin des Arbeitskreises Gesundheit, Arbeit und Soziales sowie der Sprecher für Kinder- und Jugendpolitik Norbert Müller und der Sprecher für Rechtspolitik Friedrich Straetmanns) trugen die Position der Fraktion zu diesem weitgehend verdrängten Kapitel der Heimerziehung vor und setzten sich mit den politischen Forderungen der Betroffenen und Opfer auseinander.
Unzureichender Schadensersatz
Einigkeit bestand bei allen Anwesenden, dass die bislang über die Fonds Heimerziehung in West und Ost zur Verfügung gestellten Mittel als Schadensersatz oder Entschädigung völlig unzureichend waren und maximal als "Würdigung" zu akzeptieren seien. Zudem wurden damals beim Abschlussbericht des Runden Tischs Heimerziehung die Arzneimittelversuche an Heimkindern ausgeklammert und nicht beachtet.
So stehen weiterhin folgende Forderungen und Ziele auf der Agenda: Die Menschenrechtsverletzungen durch Medikamentenstudien, aber auch Zwangsarbeit sowie körperliche und seelische Misshandlungen in den Heimen sind als solche endlich anzuerkennen und die Opfer zu rehabilitieren. Von Seiten der Täter(-organisationen) muss die Schuld eingestanden sowie die Verantwortung übernommen werden. Dies betrifft neben einzelnen Ärzt*innen und Heimerzieher*innen auch die Heimträger-Organisationen, Kirchen, Pharma-Unternehmen sowie Behörden auf Landes- und Bundesebene. Die Aufarbeitung hat durch öffentliche Kommissionen unter großer Beteiligung der Betroffenenorganisationen zu erfolgen. Bei Umkehr der Beweislast sind Opferrenten einzuführen, die auch von der Höhe der Leistungen her geeignet sein müssen, diese Bezeichnung überhaupt zu tragen.
Aufarbeitung fortsetzen
Unterschiedliche Vorschläge wurden dazu gemacht, wie der parlamentarische und außerparlamentarische Druck erhöht werden kann, damit alle Parteien und auch die Regierung sich der Verantwortung stellt, und welche Rolle Stiftungen mit Rechtsanspruch im Rahmen von Entschädigungsleistungen für das oft lebenslange Leiden spielen können. Ebenfalls wurde erörtert, wie das Problem der Verjährung ggf. auch mit neuen Rechtsbegriffen zu schwerster Missachtung von zentralen Grundrechten und Versagen staatlicher Aufsicht angegangen werden kann.
Die sehr lebendige Diskussion hat sicherlich nicht sofort ein greifbares Ergebnis gebracht, dass zur Umsetzung der Forderungen führt. Doch es sollte ein Startschuss gewesen sein, dieses unterdrückte Kapitel endlich verstärkt aufzuarbeiten und den Opfern eine wirkliche Entschädigung zukommen zu lassen. Das sollte allerdings schnell gehen, damit die betroffenen ehemaligen Heimkinder auch noch zu Lebzeiten etwas davon haben. Zudem muss politisch dafür Sorge getragen werden, dass vergleichbare Missstände heutzutage – nicht nur in Säuglings- und Kinderheimen, sondern auch in Altenheimen, Kitas und anderen Einrichtungen – unterbunden werden.