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»Europas Politiker waschen sich ihre Hände in Unschuld – in dem Wasser, in dem die Flüchtlinge ertrinken«

Nachricht von Jan van Aken, Gregor Gysi,

Überbleibsel aus einem Flüchtlingsboot aus Tunesien liegen am Hafen von Lampedusa, Foto: UN Photo/UNHCR/Phil Behan


Sollten sich Berichte von Augenzeugen bestätigen, starben auf dem Flüchtlingsschiff, das in der Nacht zum Sonntag 110 Kilometer vor der Küste Libyens gekentert war, womöglich noch mehr Menschen, als bislang angenommen. Die Staatsanwaltschaft von Catania auf Sizilien spricht unter Berufung auf Überlebende von 950 Menschen, die an Bord des Kutters waren. Gregor Gysi spricht von einer "Schande für die gesamte Leitung der Europäischen Union und für die Bundesregierung".

Dabei gab es bis zum vergangenen Herbst ein Seenotrettungsprogramm, das allein in den Jahren 2013 und 2014 mehr als einhunderttausend Menschen das Leben rettete. »Mare Nostrum« war eine Operation der italienischen Marine und Küstenwache zur Seenotrettung von Flüchtlingen aus meist afrikanischen Ländern, die versuchen, über das Mittelmeer Italien zu erreichen. Gleichzeitig sollten die Schleuser im Hintergrund aufgegriffen werden.

Dass Italien als einziges europäisches Land auf eigene Initiative seine Marine, die Küstenwache und weitere Behörden zu einer solchen Rettungsaktion mobilisierte, wurde von vielen Menschen in Europa mit Anerkennung und Unterstützung honoriert. Heribert Prantl schrieb in der Süddeutschen Zeitung: "Es ist beschämend, dass die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete EU nicht einmal gewillt ist, die Kosten für das grandiose italienische Rettungsprogramm Mare Nostrum zu übernehmen. (…) Europas Politiker waschen sich ihre Hände in Unschuld – in dem Wasser, in dem die Flüchtlinge ertrinken."

Bundesinnenminister Thomas de Maizière forderte Ende September 2014, Mare Nostrum durch eine Mission zu ersetzen, die vornehmlich der Rückführung von Flüchtlingen dient. Der Plan der Bundesregierung geht aus einem Brief von de Maizière an die zuständige EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström hervor, über den das ARD-Magazin Report Mainz berichtete. Darin fordert de Maizière: "Wir müssen die Umsetzung unserer gemeinsamen Rückführungspolitik (…) innerhalb der EU mit den Drittstaaten verbessern. Eine solche Arbeit der Identitätsermittlung würde, zusammen mit der Rückkehrpolitik, auch ein integraler Bestandteil der Operation Frontex + sein." Auf Anfrage des ARD-Magazins, ob Frontex Seenotrettungseinsätze wie Mare Nostrum nicht koordinieren könne, antwortete das Innenministerium: "Hierfür hat die Agentur weder das Mandat noch die Ressourcen."

Am 31. Oktober 2014 endete die Operation Mare Nostrum offiziell. Am 1. November 2014 begann die Operation Triton unter Führung der EU-Grenzagentur Frontex. Triton wird Mare Nostrum weder übernehmen noch ganz oder teilweise ersetzen. Primäre Aufgabe der Operation Triton ist nicht die Seenotrettung, sondern die Sicherung der EU-Außengrenze vor illegaler Einwanderung. Ihr Einsatzgebiet ist im Wesentlichen auf den küstennahen Bereich beschränkt, ihr monatliches Budget beträgt ein Drittel des Budgets von Mare Nostrum. Frontex kalkuliert Kosten von 3 Millionen Euro im Monat. Italien brachte für die Operation Mare Nostrum als einzelnes Land die Kosten von 9,3 Million für seine Operation alleine auf. "Um 9 Millionen zu sparen, lassen wir über tausend Menschen ertrinken? Ich finde das einfach unerträglich", skandalisiert Gregor Gysi.

Im Plenum des Bundestag kam es am 26. November 2014 zu einem Eklat, als Jan van Aken in seiner Rede (Youtube) das erfolgreiche Seenotrettungsoperation ansprach: "Auch die Bundesregierung war nicht bereit, nur einen einzigen Cent für dieses Programm »Mare Nostrum« zur Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer auszugeben. Auch Sie, Herr Steinmeier, sind mit schuld, wenn das Mittelmeer zum Friedhof für viele Menschen wird." Wutschnauben bei Union und SPD. Selbst Vizepräsidentin Claudia Roth ermahnte van Aken nach seiner Rede Den Außenminister aber mitverantwortlich für das Sterben im Mittelmeer zu machen, halte ich für unzulässig. Am 20. April 2015 fordert nun auch Roths Parteikollegin, Britta Haßelmann: "Ein Seenotrettungsprogramm wie »Märe Nostrum« muss sofort wieder gestartet werden."
 

Auszug aus dem Plenarporotokoll des Bundestages vom 26.11.2014

Jan van Aken (DIE LINKE):
Wie brutal Sie gelegentlich sein können, zeigt mein drittes Beispiel, nämlich Ihr Umgang mit den Flüchtlingen im Mittelmeer, die vor Krieg, Gewalt, auch vor deutschen Waffen und vor Armut flüchten. Sie alle wissen: Es gab ein italienisches Programm zur Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer. Das Programm hieß »Mare Nostrum«. Das hat in einem einzigen Jahr 130 000 Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet. Das Programm musste aus Geldmangel eingestellt werden, weil kein einziger EU-Staat bereit war, das mitzufinanzieren. Auch die Bundesregierung war nicht bereit, nur einen einzigen Cent für dieses Programm »Mare Nostrum« zur Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer auszugeben.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der LINKEN: Schande!)

Auch Sie, Herr Steinmeier, sind mit schuld, wenn das Mittelmeer zum Friedhof für viele Menschen wird.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das ist unverschämt! – Gunther Krichbaum [CDU/ CSU]: Das ist eine bodenlose Unverschämt- heit! Sie überschreiten eine Grenze! Das ist eine Frechheit, was Sie hier abliefern!)

Am meisten regt mich auf – gerade jetzt, da sich die Verteidigungspolitiker, die Kriegspolitiker der CDU/ CSU aufregen –: Für die Flüchtlinge im Mittelmeer haben Sie kein Geld, aber hier um die Ecke, am Bahnhof Friedrichstraße, in der besten Lage im Berliner Zentrum, haben Sie gerade zu horrenden Kosten ein Rekrutierungsbüro für die Bundeswehr eröffnet.

(Beifall bei der LINKEN – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: So ein Schwachsinn! Sie haben ganz andere Friedhöfe!)

Der Werbeetat der Bundeswehr – ich weiß, das ist nicht Ihrer – beträgt 35,5 Millionen Euro. Das Geld würde locker ausreichen, um davon Ihren Beitrag für „Mare Nostrum“ zu zahlen und damit 130 000 Menschen zu retten. Sie machen hier aber lieber eine Showveranstaltung, um junge Menschen zur Armee zu ziehen.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Ihre Partei hat früher in der DDR die Friedhöfe geschaffen! Das ist doch die Wahrheit! Sie sind doch der Friedhofsschaffer! Blanker Zynismus!)

Das kommt dabei heraus, wenn man manchmal nur den Panzer im Kopf und das Gewehr in der Hand hat und keine menschliche Außenpolitik betreibt.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Zynisch!)

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte.

Herr Steinmeier, Ihr Kollege, Ihr Wirtschaftsminister, Ihr Vizekanzler, Ihr SPD-Vorsitzender, hat vor einem Jahr noch ganz laut getönt: Wir brauchen Beschränkungen bei den Waffenexporten. – Jetzt, nach einem Jahr, ist er vor der Rüstungslobby und der Kanzlerin komplett eingeknickt. Es gibt in der Waffenexportpolitik nicht einmal mehr ein Reförmchen. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Hans-Peter Bartels – auch von der SPD –, hat das gestern vor der gesamten versammelten deutschen Rüstungsindustrie noch einmal versichert.

Vizepräsidentin Claudia Roth:
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Jan van Aken (DIE LINKE):
Wörtlich hat er gesagt: Die Regeln für Rüstungsexporte werden nicht verändert. – Hier haben Sie aber wirklich ein Problem mit Ihrem Panzer im Kopf.

(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Claudia Roth:
Man kann sich in diesem Haus trefflich streiten, und diese parlamentarische Debatte lebt auch von einer Kontroverse. Den Außenminister aber mitverantwortlich für das Sterben im Mittelmeer zu machen, halte ich für unzulässig.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jan van Aken [DIE LINKE]: Ich möchte eine Erklärung! – Gegenruf des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Du hast doch selber geredet! Da kannst du keine Kurzintervention machen!)

– Das können Sie nachher machen.