»If I thought there was any chance of major reform in the EU, I’d vote to stay in. But there isn’t.«Tweet des Satirikers John Cleese im Vorfeld des britischen Referendums
»Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.« EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
Am 23. Juni haben die Briten mehrheitlich entschieden, aus der Europäischen Union auszutreten. Dies allein auf rechte Angstkampagnen, falsche Versprechungen oder die Dummheit der Menschen zurückzuführen, wäre fahrlässig. Jeremy Corbyn, der Vorsitzende der Labour-Partei, hat recht: Das Votum der Briten war ein Aufstand gegen eine verfehlte EU-Wirtschaftspolitik, die Armut und Ungleichheit befördert. Umfragen zufolge haben soziale Ängste bei der Entscheidung eine große Rolle gespielt, darunter die Sorge über niedrige Löhne, den Mangel an bezahlbarem Wohnraum oder den Verfall der Krankenhäuser.
Sicher war auch die Angst vor verschärfter Konkurrenz um Jobs und Wohnungen infolge von Zuwanderung von Bedeutung. Viele waren auch wütend über den Verlust an demokratischer Souveränität in einem von Deutschland dominierten Europa. So fühlen sich viele EU-Bürger durch die Alleingänge von Kanzlerin Merkel vor den Kopf gestoßen, zuletzt durch ihren privaten Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Diktator Erdoğan.
Rund 120 Millionen Menschen leben in der EU heute in Armut, das ist nahezu jede vierte Person. Dagegen hat sich die Zahl der Milliardäre in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Die wachsende Ungleichheit ist das Ergebnis neoliberaler EU-Verträge, die Steuer- und Sozialdumping sowie den Ausverkauf öffentlicher Güter befördern. Sie ist das Ergebnis einer Politik, die Banken rettet und dafür Löhne, Renten und Sozialleistungen zusammenstreicht. Europa spart sich kaputt. Zwar pumpt die Europäische Zentralbank jeden Monat zig Milliarden Euro in die Finanzmärkte, aber für sinnvolle öffentliche Investitionen gibt sie keinen Cent. Große Konzerne wie Apple oder Google zahlen in der EU keine Steuern, dafür werden Verbraucher und Beschäftigte immer stärker zur Kasse gebeten. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandeln EU-Kommissare über Handelsabkommen, die unsere sozialen Rechte, den Verbraucher- und Gesundheitsschutz, den Rechtsstaat und die Demokratie bedrohen. Wachsende Unsicherheit und Armut auf der einen, hohe Konzerngewinne und längst wieder fröhlich spekulierende Finanzhaie auf der anderen Seite zeigen deutlich, in wessen Interesse die EU und die Eurozone funktionieren.
Demokratie verteidigen, CETA stoppen
Demokratie ist der EU offenbar nur genehm, wenn das Ergebnis »marktkonform« ist. Droht ein anderes Ergebnis, wird eingeschüchtert oder getrickst. Zwar konnte der Brexit nicht verhindert werden – allen Einschüchterungen zum Trotz. Doch kaum waren die Stimmen des Referendums ausgezählt, ging EU-Kommissionspräsident Juncker mit der forschen These an die Öffentlichkeit, dass das umstrittene Handelsabkommen der EU mit Kanada (CETA) auch ohne Zustimmung der nationalen Parlamente in Kraft treten könne. Zum Glück waren die Proteste so groß, dass Juncker zurückrudern musste. In Deutschland werden also Bundestag und Bundesrat über eine Paralleljustiz für Konzerne und den Abbau von Arbeiter- und Verbraucherrechten abstimmen. Damit stellt sich die Frage, ob es uns Linken gelingt, CETA gemeinsam mit SPD und Grünen zu stoppen – oder ob die Abgeordneten von SPD und Grünen vor dem Willen der CETA-Befürworter Sigmar Gabriel und Winfried Kretschmann einknicken.
In der Hoffnung, dass es kein Zurück mehr gibt, wenn erst einmal entsprechende Fakten geschaffen wurden, hat die EU-Kommission den EU-Regierungen nun vorgeschlagen, das gesamte Handelsabkommen vorläufig in Kraft zu setzen. Da man dazu keine einstimmige Zustimmung aller EU-Staaten braucht, wird CETA also womöglich ab Oktober angewendet. Die Linksfraktion hat für den Fall eine Klage eingereicht, da wir derartige Verstöße gegen das in der Verfassung verankerte Demokratiegebot nicht hinnehmen können. Das Letzte, was Europa braucht, sind ausgehebelte Parlamente und erweiterte Klagerechte für Konzerne. Was wir stattdessen brauchen, ist mehr Demokratie, sind Volksabstimmungen über CETA und TTIP auch in Deutschland.
Für einen Neustart der EU
Der Brexit ist nicht die Ursache, sondern das Symptom einer tiefen Krise der EU, die in ihrer derzeitigen Verfassung keine Zukunft hat. Dies hätte man schon vor elf Jahren wissen können. Eine Mehrheit der französischen und niederländischen Bevölkerung sagte damals Nein zu einem neoliberalen und undemokratischen Verfassungsentwurf. Trotzdem wurde dieser in kaum modifizierter Form wenige Jahre später beschlossen. Der Wille des Volkes zählt nicht viel in dieser EU, das haben zuletzt auch die Griechen erfahren. »Wahlen können nichts ändern« bekamen sie vom deutschen Finanzminister Schäuble zu hören, nachdem sie im Januar 2015 eine linke Regierung gewählt hatten. Ein Nein zu den Kürzungsdiktaten der Gläubiger bedeute ein Nein zu Europa. EU-Kommissionschef Juncker drohte ihnen im Vorfeld einer Volksabstimmung sogar mit dem Rausschmiss. Trotzdem sprachen sich 61 Prozent der griechischen Bevölkerung gegen ein weiteres Kredit- und Kürzungsprogramm aus – das dann trotzdem umgesetzt wurde.
Das Votum der Briten war keine Entscheidung gegen Europa, sondern eine Protestwahl gegen einen antidemokratischen Lobbyistenclub. Statt über den Zerfall der EU zu jammern, sollten Linke in Europa die Krise nutzen, um für einen Neustart der EU zu werben. Eine Politik im Interesse der Mehrheit wird erst wieder möglich sein, wenn die europäischen Verträge geändert werden, die den Konzernen mehr Rechte und Freiheiten einräumen als den Bürgerinnen und Bürgern. Statt Unternehmen das Recht auf Steuer- und Regulierungsdumping einzuräumen, müssen die Handelsabkommen CETA und TTIP gestoppt, EU-weite Mindeststeuersätze für Unternehmen eingeführt und die Finanzmärkte entwaffnet werden. Damit die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht in Lohndumping mündet, muss das Prinzip »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« überall durchgesetzt werden. Statt von verschuldeten Staaten immer neue Lohn- und Rentenkürzungen zu fordern, muss die Massenarbeitslosigkeit in Europa bekämpft werden. Statt mit Billionensummen die Spekulation anzuheizen, sollte die Europäische Zentralbank ein soziales und ökologisches Investitionsprogramm finanzieren. Statt den Ausverkauf öffentlicher Güter voranzutreiben, muss die öffentliche Daseinsvorsorge geschützt und den Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln entzogen werden. Um einen Schuldenschnitt zu finanzieren und die Ungleichheit zu verringern, sollte schließlich eine EU-weite Vermögensabgabe für Multimillionäre und Milliardäre eingeführt werden.
Solche Reformen, verbunden mit Volksabstimmungen in allen EU-Ländern, könnten die Menschen wieder für Europa begeistern. Klar ist: Die EU muss sozialer werden, wenn sie eine Zukunft haben will. Deshalb kämpft DIE LINKE für einen Neustart für ein demokratisches, soziales und friedliches Europa!