Seit Jahren sind die Schuldenregeln der EU außer Kraft, sonst wären die öffentlichen Investitionen zur Abmilderung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Krise nicht möglich gewesen. Auch die gegenwärtige Energiekrise sowie die massiven Belastungen der Industrie durch den Wirtschaftskrieg mit Russland würden noch deutlich schmerzhafter ausfallen, müssten die Vorschriften des Stabilitäts- und des Fiskalpakts eingehalten werden.
Ab kommendem Jahr sollen die Regeln jedoch wieder gelten. Allerdings müssen sie bis dahin dringend überarbeitet werden, sonst müsste die EU-Kommission bald in fast alle Hauptstädte der Währungsunion blaue Briefe verschicken und Defizitverfahren eingeleitet werden. Drastische Kürzungsprogramme wären die Folge, wirtschaftliche und soziale Verwerfungen würden zunehmen und auch für Zukunftsinvestitionen in grüne Technologien und Digitalisierung gäbe es keinen Raum. Europa würde im Wettlauf mit den USA, China und Indien um Anteile auf diesen Märkten weiter an Boden verlieren.
Nun hat die EU-Kommission ihre Vorschläge für eine solche Reform präsentiert. Ein großer Wurf ist es nicht geworden, das war auch nicht zu erwarten. An den Grenzwerten – 60 Prozent Gesamtverschuldung, drei Prozent Neuverschuldung – will die Behörde nichts ändern. Stattdessen soll der Schuldenabbau flexibilisiert werden. Die Mitgliedstaaten sollen mit der Kommission individuelle Pläne vereinbaren und erstmal vier Jahre Zeit bekommen, bevor sanktionsbewährte Defizitverfahren ins Spiel kommen. Gegen Reformzusagen könnten drei weitere Jahre hinzukommen.
Im Kern dürfte es der Kommission zum einen darum gehen, Zeit zu gewinnen, um in der gegenwärtigen Krisensituation halbwegs handlungsfähig zu bleiben. Zum anderen würde die Logik „Schulden gleich Schulden“ ein Wenig aufgelöst werden, indem die jeweilige Situation betrachtet wird und gezielt Spielräume für Investitionen geschaffen werden, die als strategisch sinnvoll gelten. Zudem würde die Reform natürlich einen spürbaren Machtzuwachs für die Kommission selbst bedeuten, schließlich läge es in ihrem Ermessen, die jeweiligen Abbaupläne zu akzeptieren oder Änderungen einzufordern.
Die Reformvorschläge sind meilenweit von dem entfernt, was wirklich nötig ist. Wir brauchen massive, europaweite Investitionen in den sozial-ökologischen Wandel der Industrie, Bildung, digitale Infrastruktur. Wir müssen Geld in die Hand nehmen, um auch energieintensive Unternehmen durch die Krise zu bringen und gute Arbeitsplätze zu erhalten. Das geht nicht mit permanentem Kürzungsdruck. Stattdessen bräuchte es mehr Einnahmen, etwa durch eine europaweite Vermögensabgabe, koordinierte Steuererhöhungen für Reiche und große Unternehmen sowie eine entschlossene Bekämpfung von Steuerflucht.
Doch auch wenn das meilenweit von den Vorschlägen der Kommission entfernt ist, wären diese ein kleiner Schritt in die richtige Richtung und würden Zeit verschaffen. Christian Lindner hat jedoch bereits seinen Widerstand angekündigt und letztlich ein Festhalten an den dummen, realitätsfernen Regeln aus den 1990er Jahren gefordert. Ein Blick ins Griechenland der 2010er Jahre lässt erahnen, wohin diese Politik führen würde. Olaf Scholz muss seinen Finanzminister dringend zurückpfeifen, um das Schlimmste zu verhindern!