»Reformation und Reformen – was geht uns das heute an?«, fragt Margot Käßmann, Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläumsjahr 2017.
Es hat begonnen, das Reformationsjubiläumsjahr. Nun sagen manche: Was geht uns so ein Kirchentermin an? Ich hoffe, viele können sich darauf einlassen. Wie heißt es im Beschluss des Deutschen Bundestags: Es handelt sich um ein Datum von Weltrang.
Mir ist zum einen wichtig, dass wir nach unseren Wurzeln fragen. Eine Zeit, die von den Menschen ständig Mobilität und Innovation verlangt, braucht auch Besinnung auf Herkunft und Tradition. Dass jeder Mensch in Fragen des Glaubens und des Gewissens frei ist, das war eine Konsequenz der Reformation. Mir ist sehr bewusst, dass Martin Luther selbst diese Toleranz nicht gelebt hat – denken wir an seine verbalen Attacken auf das Papsttum, die aufständischen Bauern oder die Juden. Aber der Gedanke war in der Welt und ließ sich nicht mehr durch Zensur oder Gewalt verbannen.
Und die Frage von Glaubens- und Gewissensfreiheit ist hochaktuell. In unserem eigenen Land wird gefragt, ob Muslime Moscheen bauen, ob Frauen ein Kopftuch tragen dürfen. Und in allzu vielen Ländern – auch beim NATO-Partner Türkei – ist die Gewissensfreiheit massiv bedroht.
Deshalb ist mir zum anderen wichtig, dass wir im Jahr 2017 offen diskutieren, wo denn heute Reform und Reformation gefordert sind in Kirche und Gesellschaft. Allzu oft ist der politische Diskurs von der Tagesaktualität abhängig. Wir werden 16 Wochen von Mai bis September während der Weltausstellung Reformation in der Lutherstadt Wittenberg miteinander nachdenken können, was Reformanliegen sind mit Blick auf Globalisierung, den Dialog der Religionen, die Bewahrung der Schöpfung, Gerechtigkeit, Spiritualität. Und zwar mit Menschen aus aller Welt, unterschiedlichen Glaubens und ohne religiöse Bindung.
Nehmen wir allein die Friedensfrage. Gewiss, Luther war kein Pazifist. Aber vom Evangelium her sind wir auf diesen Weg gewiesen, meine ich. »Selig sind, die Frieden stiften«, steht dort. Die unseligen Kriege im Mittleren und Nahen Osten, die Gewalt an vielen Orten Afrikas, sie sollten uns ganz anders aufrütteln, als unsere Wohlstandsgesellschaft das derzeit zeigt. Zuallererst müssten die Rüstungsexporte aus Deutschland beendet werden, meine ich. Wir können nicht die Kriege dieser Welt beklagen und an den Waffen verdienen, mit denen sie geführt werden.
Oder nehmen wir die aktuelle Krise der Geflüchteten – ja, sie sind in einem kritischen Zustand, nicht unser Land. Wer Fremde in Not aufnimmt, nimmt Jesus selbst auf, heißt es in der Bibel. Es braucht einen Aufschrei angesichts von mehr als 4.000 Menschen, die im Mittelmeer ertrunken sind, angesichts der mehr als 1.000 Übergriffe auf Unterkünfte von Geflüchteten, angesichts der desolaten Lage in Griechenland und Italien.
Als Christin werde ich ja oft als naiv bezeichnet. Aber ich lasse mich lieber als Weltverbesserin belächeln, als zur Weltverschlechterin oder gar Zynikerin zu werden. Warum sollte 2017 nicht ein Jahr des Friedens und der Gerechtigkeit werden? Weil uns das zu unbequem erscheint? Weil wir uns alle schon zufriedengeben mit dem vorfindlichen Status quo? Da täte ein wenig reformatorischer Widerstandsgeist doch gut. Ja, »ich stehe hier, ich kann nicht anders« hat Luther wohl nie so gesagt vor dem Reichstag zu Worms im Jahr 1521. Aber es spiegelt seine Haltung wider. Und Menschen mit so einer widerständigen Haltung sind gefragt, wenn wir etwas verändern wollen. Resignation ist eine schlechte Ratgeberin. Unverzagtsein gefällt mir da wesentlich besser.