Von Gerd Wiegel
Man habe dem abgetauchten NSU-Trio keine Straftaten zuordnen können, deshalb sei es zu den spektakulären Fehleinschätzungen des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) zur Frage Rechtsterrorismus in den 2000er Jahre gekommen. So begründete der damalige Abteilungsleiter Rechtsextremismus des BfV, Wolfgang Cremer, die vom Amt vertretene Einschätzung zu Beginn der 2000er Jahre, es gäbe keine rechtsterroristischen Strukturen, keine „braune RAF“ in der Bundesrepublik. Zu diesem Zeitpunkt (September 2003) hatte der NSU bereits vier Morde, zwei Sprengstoffanschläge und fünf Raubüberfälle verübt. Cremer, der in seiner Zeugenvernehmung wenig bis keine Erinnerung zu den damaligen Abläufen haben wollte, war in seiner Funktion als Abteilungsleiter Rechtsextremismus für diese Einschätzung maßgeblich mitverantwortlich. Das Trio sei von den Ämtern als „Bombenbastler“ eingeschätzt worden, die nicht wirklich zur Tat geschritten seien. Mithin habe man sie, so wollte es der Zeuge darstellen, für Aufschneider gehalten und unterschätzt. Nach zwei Untersuchungsausschüssen und mehr als fünf Jahren Recherche zum NSU stellt sich die Wahrheit aber schlimmer dar. Das Trio war von V-Leuten des Verfassungsschutzes so umstellt, dass diesem die Radikalisierung der drei kaum entgangen sein kann. Länderegoismus und fehlende Informationen an das BfV werden dann als weitere Abwehr eigener Verantwortung in Stellung gebracht. So auch vom Zeugen Cremer.
Bei der VP des Landesamtes Brandenburg, Carsten Szczepanski alias „Piatto“ gingen 1998 diverse SMS des NSU-Unterstützers Jan Werner ein, aus denen hervorging, dass das Trio auf der Suche nach „Waffen“ war. Weiter berichtete Piatto dem Amt, das Trio wolle einen „weiteren Überfall“ begehen und sich dann nach Südafrika absetzen. Laut Cremer habe man im BfV von diesen Meldungen nichts gewusst, denn sonst hätte dem BfV ja klar sein müssen, dass das Trio Straftaten beging. Ein Blick in die Akten zeigt, dass diese Version nicht stimmen kann, denn zu anderen Meldungen von „Piatto“, in denen im Zusammenhang mit dem Trio von „drei sächsischen Skinheads“ die Rede ist, heißt es: „Nach Angaben des BfV könnte es sich jedoch bei den hier genannten sächsischen Skinheads um Personen aus Jena handeln.“ Das BfV war also über die „Piatto“-Meldungen informiert.
Ansonsten verschanzte sich der Zeuge immer wieder hinter fehlender Erinnerung und verwies auf die Akten, in den alles stehen müsse. Das kann, wer die Akten liest, nicht bestätigen. Schwärzungen, Entnahmen, fehlende Zulieferungen – das ist die alltägliche Erfahrung bei der Lektüre. Weder wollte sich Cremer an Aufträge in die VP des BfV „Primus“ alias Ralf Marschner erinnern, der in Zwickau im direkten Umfeld des Trios platziert war und in dessen Firmen nach Zeugenaussagen Mundlos und Zschäpe zeitweilig gearbeitet haben könnten, noch konnte er Angaben dazu machen, wer bei der Suche nach dem Trio (Operation „Drilling“) für das BfV alles beteiligt war. Ob zum Beispiel der BfV-Mitarbeiter Lothar Lingen daran beteiligt war, wäre eine wichtige Erkenntnis, ist doch Lingen der Beamte, der unmittelbar nach dem Auffliegen des NSU in großem Umfang Akten im BfV schreddern ließ.
Schwerkrimineller V-Mann als kleineres Übel
Der zweite Zeuge des Tages war der pensionierte ehemalige Abteilungsleiter und Vizepräsident des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) Brandenburg Jörg Milbradt. Milbradt hatte mittelbar mit der Anwerbung und Führung von „Piatto“ zu tun. Seine Aussage war von einem großen Rechtfertigungsbedürfnis gekennzeichnet, denn der Fall „Piatto“ gilt bis hin zur Union als Sündenfall in Sachen V-Leute. Milbradt beschrieb die Anwerbung eines wegen versuchten Mordes verurteilten rechten Gewalttäters als „moralisches Übel“, mit dem einem noch größeren „Übel“ abgeholfen werden sollte. Mit Hilfe von „Piatto“ sei es gelungen, die aktive und gefährliche Naziszene in Brandenburg unter Kontrolle zu bekommen, dazu haben man sich auch eines unmoralischen Mittels wie „Piatto“ bedienen müssen.
Während der Zeuge an dieser Stelle Verständnis für das eigene Dilemma einforderte, präsentierte er danach nur die entlastende Sicht des LfV auf den Umgang mit dieser Quelle. Die auf sanften Druck des LfV erlassenen Haftvergünstigungen für Szczepanski, die Freigänge die er mit Hilfe des LfV bekam, das ihm sogar eine Art Fahrdienst zu seinen Nazikameraden in Sachsen organisierte, wo er im Laden der NSU-Unterstützerin Antje Probst ein Praktikum absolvierte, all das wurde vom Zeugen verniedlichend dargestellt. Sogar aus der Zelle im Knast heraus war es „Piatto“ möglich, gewaltverherrlichende Artikel für Nazifanzines zu verbreiten. Die im Abschlussberich des 1. NSU-Untersuchungsausschusses detailliert aufgeführten Vergünstigungen und Unterstützungsleistungen des LfV für „Piatto“ lesen sich wie eine Aneinanderreihung von Ungeheuerlichkeiten (vgl. Beschussempfehlung und Bericht (PDF), Suchwort „Piatto“).
Bis heute behauptet man im LfV Brandenburg, die SMS von Jan Werner, in der dieser sich nach Waffen für das Trio erkundigt, nie gesehen zu haben. Begründung: Am Tag dieser SMS seien Handy und SIM-Karte von „Piatto“ ausgetauscht worden, so dass die Nachricht auf einem toten Handy angekommen sei. So viel Unprofessionalität würde nicht einmal DIE LINKE dem Verfassungsschutz zutrauen, dass das aussortierte Handy eines V-Mannes nicht auch danach auf eingehende Nachrichten überprüft wird.
Letzter Zeuge des Tages war in geschlossener Sitzung ein Bekannter des Trios aus dem Naziumfeld in Jena, der am Tag des Abtauchens diverse Unterstützungsleistungen für die drei erbrachte. Für die Fragen nach Gruppenstruktur, Planungen des Trios und weiteren Helfern war dieser Zeuge von Interesse, zur Aufklärung der Fragen des Untersuchungsausschusses konnte er jedoch nicht beitragen.
Die nächste Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses findet am 26. Januar ab 11 Uhr statt. Tagesordnung und Zeugen können auf der Website des Bundestags eingesehen werden.