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Das Wahlrechtsreförmchen der Großen Koalition und ihre fatalen Folgen

Im Wortlaut von Friedrich Straetmanns,

598 Abgeordnete – das ist die Regelgröße des Bundestags. Durch die sogenannten Überhangmandate aber nimmt deren Zahl seit Jahren zu. Gegenwärtig sind es 709 Abgeordnete. Das ist Rekord. Doch der könnte schon bald Geschichte sein.


Von Friedrich Straetmanns, rechtspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag


Vor wenigen Tagen hat die Bertelsmann-Stiftung vorgerechnet, auf welche Größe der kommende Bundestag anschwellen könnte. Nur bei enorm unwahrscheinlichen Annahmen über das Wahlverhalten bezüglich Erst- und Zweitstimme (das sogenannte Stimmensplitting, also die Frage, ob beide Stimmen für die gleiche oder verschiedene Parteien vergeben werden) besteht die Chance, dass der Bundestag nicht über die aktuell 709 Abgeordneten anwächst. Legt man aber realistischere Splitting-Annahmen (etwa Wahl der CDU mit der Erststimme, Wahl der FDP mit Zweitstimme) und aktuelle Umfrageergebnisse zugrunde, wächst der Bundestag in den Szenarien der Stiftung auf 853 oder gar 940 Abgeordnete. Eine enorme Belastung für die Arbeit im Parlament und genauso für die Steuerzahler:innen, die ausschließlich durch den Reformunwillen der Großen Koalition zustande kam.

Union blockierte jeden Kompromiss

Dabei sollte der Bundestag in dieser Legislatur durch eine Wahlrechtsreform verkleinert werden, ohne dass das Bundesverfassungsgericht die Reform des Wahlrechts wieder einkassiert. Die Aufgabe war damit klar umrissen. Eigentlich. Über ein Jahr tagte die eingesetzte Kommission und ging schließlich ohne Ergebnis auseinander. Insbesondere CDU und CSU blockierten jeden Kompromiss, der nicht einseitig zu ihren Gunsten ausfiel.

Letztlich legte die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag gemeinsam mit den Fraktionen der Grünen und der FDP einen Vorschlag als Gesprächsangebot vor, der insbesondere eine moderate Verkleinerung der Zahl der Wahlkreise vorsah (von 299 auf 250) und durch Veränderungen in mathematischen Berechnungsschritten nach einhelliger Meinung der Expert:innen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu einer Verkleinerung des Bundestages geführt hätte. Alle Parteien hätten mit gleich starken Einschnitten zu rechnen gehabt.

Die Große Koalition ließ unser Gesprächsangebot über Monate unbeantwortet und drückte in letzter Minute – das Wahlrecht muss ein Jahr vor einer Bundestagswahl feststehen – ein neues Wahlgesetz durch. Entgegen der üblichen Gepflogenheiten im Parlament wurden die Oppositionsfraktionen kaum eingebunden und es wurde kein Versuch unternommen, eine breite Zustimmung zu erhalten. Das Wahlgesetz ist nicht dazu geeignet, den Bundestag zu verkleinern und zusätzlich – davon sind LINKE, Grüne, FDP sowie Verfassungsrechtler:innen überzeugt – noch verfassungswidrig.

Das Bundesverfassungsgericht hat vor einigen Jahren ein deutliches Urteil gesprochen, nach dem die Zweitstimme, also diejenige Stimme, mit der die Liste der Partei gewählt wird, die Verteilung der Sitze im Bundestag festlegt. Das Wahlrecht wurde dahingehend verändert, dass Ausgleichsmandate vergeben werden müssen, wenn durch Direktmandate die Verteilung nach Zweitstimmen von der tatsächlichen Besetzung des Bundestags abweicht. Die Fraktionen ohne einen Überschuss an Direktmandaten werden nach und nach aufgefüllt, bis die entsprechende Verteilung erreicht ist. Nachdem Union und SPD in den letzten Jahren deutlich an Zweitstimmen eingebüßt haben, aber nach wie vor die meisten Direktmandate gewinnen, müssen immer mehr Mandate ausgeglichen werden. Deshalb nimmt die Zahl der Abgeordneten von Legislatur zu Legislatur zu.

Linksfraktion klagt vor dem Bundesverfassungsgericht

Neben dem Scheitern bei der Aufgabenstellung "Verkleinerung des Bundestags" beinhaltet das Wahlgesetz der Koalition ein großes Problem. Denn entgegen der Vorgabe des Verfassungsgerichts, dass die Zweitstimme die Verhältnisse im Bundestag festlegt, soll die Verkleinerung vor allem dadurch erreicht werden, dass drei Direktmandate unausgeglichen bleiben. Mal abgesehen von dem geringen Effekt ist eine Verzerrung des Zweitstimmenergebnisses also im Vorhinein klar. Ein klarer Verstoß gegen die Stimmgewichtsgleichheit, der noch dazu bei knappen Ergebnissen den Ausschlag geben kann, ob Koalitionen gegen die Unionsparteien gebildet werden können.

Diese Ungeheuerlichkeit ist nur die augenfälligste Problematik, die uns zur Klage vor dem Verfassungsgericht bewogen hat. Hinzu kommen zahlreiche technische Details, die nach unserer Überzeugung nicht mit vorherigen Urteilen des Gerichts vereinbar sind und an vielen Stellen dilettantische Formulierungen beinhalten, die selbst ausgewiesene ExpertInnen ratlos zurücklassen.

Die Wahlrechtsreform ist Sinnbild dafür, wie schlecht die Bundesregierung aus Union und SPD gearbeitet hat und wie sehr sie auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist. Ich hoffe sehr, dass das Verfassungsgericht noch vor der Bundestagswahl das Urteil verkündet, damit wir, wenn schon keinen verkleinerten Bundestag, so doch immerhin einen erhalten, der gerecht zusammengesetzt ist.