Auswertung der Antwort der Bundesregierung (PDF) vom 29.06.2018 auf die Kleine Anfrage "ESM-Griechenlandprogramm – Abschluss und Bilanz" (BT-Drs. 19/2781) von Fabio De Masi u.a. und der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.
Zusammenfassung:
Im August 2018 läuft das dreijährige Anpassungsprogramm des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) für Griechenland aus. Die Eurogruppe vom 21. Juni 2018 bzw. der Europäische Rat vom 29. Juni 2018 einigten sich auf den Abschluss des Programms, letzte Auszahlungen sowie schuldenerleichternde Maßnahmen. Die Entschlüsse der Eurogruppe wurden ebenfalls am 29. Juni 2018 auf Antrag des BMF im Bundestag gebilligt.
Insgesamt wird Griechenland seit 2010 in drei aufeinander folgenden Programmen 289,2 Mrd. Euro an Kreditauszahlungen erhalten haben. Bis zu 95% bisheriger Auszahlungen flossen dabei in den Schuldendienst und stützten somit mittelbar den Bankensektor in- und außerhalb Griechenlands (www.esmt.org/where-did-greek-bailoutmoney-go).
Die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Griechenland-Programme waren verheerend. So stieg die Staatsverschuldung weiter an während Einkommen einbrachen und Arbeitslosigkeit sowie Armut explodierten. Die Antwort liefert neue Daten zu stark gesunkenen Investitionen sowie Gesundheits- und Bildungsausgaben. Sie zeigt überdies das Scheitern der Privatisierungspolitik, bei der lediglich 10 % der erwarteten Summen erlöst wurden.
Das Überschuldungsrisiko Griechenlands bleibt sehr hoch, nach Annahmen des Internationalen Währungsfonds weit über den Grenzwerten der Schuldentragfähigkeit. Die Nachprogrammüberwachung hält Griechenland nach Angaben der Bundesregierung für die nächsten 30 Jahre unter verstärkter Kontrolle der EU-Institutionen.
Dazu erklärt Fabio De Masi, finanzpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag:
„95% der Griechenland Kredite flossen in den Schuldendienst. Auch an deutsche Banken. Griechenlands Privatisierungserlöse sind ein Bruchteil der Troika-Prognose. Die Privatisierung öffentlicher Vermögenswerte in einem depressiven Umfeld ist wie Räumungsverkauf. Die Gesundheitsausgaben wurden binnen acht Jahren halbiert, die Bildungsausgaben um ein Viertel gekürzt. Die Nachprogrammüberwachung gilt bis zur Rückzahlung von 75% der Kredite bzw. etwa 30 Jahre. Das ist das Doppelte einer Merkel-Kanzlerschaft. Die Kürzungspolitik hat zum Einbruch der öffentlichen wie privaten Investitionen geführt. So kann weder Strukturwandel, noch Abbau der Staatsverschuldung oder notleidender Kredite im Bankensektor gelingen. Die Schuldenanalyse von Berlin und Brüssel ist ein schlechter Witz, um ein absurdes Kürzungsprogramm zu rechtfertigen. Bereits 0,2 Prozent weniger Wachstum als unterstellt führt zum Kollaps der Prognose. Und dies bei permanenten Haushaltüberschüssen vor Zinsen von 1,5 Prozent. Der Offenbarungseid soll hinter die nächste Bundestagswahl verzögert werden.“
Ergebnisse im Einzelnen:
- Die verheerenden ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Kürzungsprogramme in Griechenland werden durch weiteres Datenmaterial untermauert:
- Einbruch der privaten und öffentlichen Brutto-Investitionen von 35,8 bzw. 13,6 Mrd. Euro in 2009 auf 14,4 bzw. 8,1 Mrd. Euro in 2017. Dadurch Absinken der Netto-Investitionen von 6 bzw. 5,7 Mrd. Euro auf -9,7 bzw. 1,5 Mrd. Euro. Insgesamt waren private Investitionen seit 2011 konstant negativ, d.h. Substanz wurde aufgezehrt. Staatliche Investitionen waren von 2011 bis 2014 und in 2016 negativ (Frage 28).
- Halbierung der öffentlichen Gesundheitsausgaben von 16,2 Mrd. Euro (6,8% des BIP) in 2009 auf 8,6 Mrd. Euro (4,9% des BIP) in 2016.
- Rückgang der öffentlichen Bildungsausgaben von 9,8 Mrd. Euro in 2009 auf 7,5 Mrd. Euro in 2016.
- Bankeinlagen von Unternehmen und privaten Haushalten sind aufgrund der Wirtschaftskrise sowie der Unsicherheit im Finanzsektor Ende 2017 jeweils ca. auf der Hälfte des Niveaus von 2009 (37,1 Mrd. Euro --> 20,3 Mrd. Euro sowie 197,4 Mrd. Euro --> 104,3 Mrd. Euro) (Frage 21).
- Starker Anstieg der Zwangsversteigerungen von Wohnimmobilien von ca. 500 pro Jahr auf 4349 zwischen November 2017 und Mai 2018 nach Umsetzung des von den Institutionen verlangten elektronischen Auktionsverfahrens.
Bereits in Fragestellungen integriert wurden folgende relevante Zahlen:
- Anstieg der Staatsschuldenquote gemessen am BIP zwischen 2009 und 2017 von 126,7% auf 178,6% (Quelle: Europäische Kommission, Frühjahrsprognose 2018) (Frage 4).
- Absinken des jährlichen durchschnittlichen BIP von 21 012 Euro in 2009 auf 16 133 Euro in 2016 (Quelle: Eurostat) (Frage 29).
- Anstieg der Erwerbslosenquote von 9,6% auf 21,5% zwischen 2009 und 2017 (Quelle: Eurostat) (Frage 34).
- Anstieg der Jugenderwerbslosenquote von 25,7% auf 43,6% zwischen 2009 und 2017 (Quelle: Eurostat) (Frage 35).
- Anstieg der der Armutsgefährdungsquote von 27,6% auf 35,6% (bzw. von 16,2% auf 42,4% unter Annahme konstanter Armutsschwellen) zwischen 2009 und 2016 (Quelle: Eurostat) (Frage 39).
- Anstieg der notleidenden Kredite von 12,6 Mrd. Euro (7,0% des Bruttokreditbestands) in 2009 auf 103,8 Mrd. Euro (45,6% des Bruttokreditbestands) in 2017 (Quelle: IWF Financial Soundness Indicators, FSI) (Frage 20).
- Das Überschuldungsrisiko Griechenlands ist trotz der begrenzten Schuldenerleichterungen, die durch die Eurogruppe am 21. Juni 2018 beschlossen wurden, beträchtlich. Unter den Annahmen des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist auch für die Zukunft von einer signifikanten Überschuldung auszugehen (Fragen 6 & 7).
- Auch nach Ende des ESM-Programms am 20. August 2018 wird Griechenland in nennenswertem Ausmaß den Bedingungen der Eurogruppe unterworfen sein:
- So ist ein beträchtlicher Teil der Schuldenerleichterungen an die Umsetzung weiterer Kürzungen bzw. Strukturreformen in der Zukunft gekoppelt (Frage 9, vgl. auch BT- Drucksache 19/2961 BMF Antrag Abschluss ESM-Programm).
- Griechenland wird bis zur Rückzahlung von 75% der europäischen Kredite unter verstärkte Überwachung der Europäischen Kommission gestellt (Frage 11 & 12). Dies ist mindestens bis ca. 2050.
- Auch Deutschland hat finanziell von den Griechenland-Programmen profitiert und zwar in Höhe von über 3 Mrd. Euro. Ein Teil dieser Gewinne soll an Griechenland rücküberwiesen werden, allerdings nicht in vollem Umfang (Frage 13).
- Die Privatisierungserlöse im Rahmen der Griechenland-Programme sind um ein Vielfaches geringer, als die Vorgaben bzw. Schätzungen. Im ersten Griechenland-Programm betrugen die prognostizierten Erlöse 50 Mrd. Euro zwischen 2011 und 2015. Real wurden zwischen 2011 und 2017 lediglich 5,1 Mrd. Euro eingenommen (Frage 17).
- Ein Großteil der an Griechenland ausgezahlten Kredite wurde zur Tilgung alter Schulden genutzt (Frage 16). Hier ist ggf. eine weitergehende Analyse im Vergleich mit vorherigen Studien (www.esmt.org/where-did-greek-bailoutmoney-go) nötig, nach denen bis zu 95% der Programmmittel dem Schuldendienst zugeführt wurden.
- Zu etlichen Wirkungszusammenhängen bei den Griechenland-Programmen verfügt die Bundesregierung überdies über keine Informationen bzw. Analysen obwohl sie im Rahmen der Verhandlungen immer wieder auch auf konkrete Einzelmaßnahmen gedrungen hat:
- Keine Informationen zum starken Anstieg der Staatsschuldenquote (Fragen 4 & 5).
- Keine Informationen zum (rezessiven) Effekt der Griechenland-Programme auf Binnennachfrage und BIP (Fragen 27 & 29).
- Keine Informationen zum Zusammenhang der Griechenland-Programme mit dem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit sowie der negativen Effekte dieser Anstiege (Fragen 34 bis 38).
- Keine Informationen zum Zusammenhang der Griechenland-Programme mit dem starken Anstieg der Armutsgefährdung (Frage 39).
- Keine Informationen zum Zusammenhang der Griechenland-Programme mit den massiven Verschlechterungen bei Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen (Frage 45).
- Keine Informationen zum (rezessiven) Effekt der massiven Mindestlohnsenkungen bzw. den Auswirkungen dieser Senkungen auf die Armutsgefährdung (Frage 32).
- Keine Informationen zu den Effekten der Auswanderungswelle von 250 000 (netto) zwischen 2010 und 2015 (Frage 48).
- Keine Informationen über Preisentwicklungen in Märkten wie Elektrizität und Wasser, die aufgrund von vermeintlichen Ineffizienzen öffentlicher Unternehmen von Privatisierungsauflagen betroffen waren (Frage 19).