Der Überfall Aserbaidschans auf Armenien illustriert erneut, dass unsere Verbündeten nicht an menschen- oder völkerrechtlichen Standards gemessen werden.
Der Überfall von Truppen der Republik Aserbaidschan auf das Nachbarland Armenien stellt erneut die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung infrage, deren Außenpolitik angeblich auf gemeinsamen Werten und Regeln basiert. Für die Europäische Union ist die Familiendiktatur der Alijews ein enger Partner in der Region Südkaukasus, und damit auch für die Bundesregierung. Nach deren Auskunft werden seit 2016 regelmäßig Angehörige des aserbaidschanischen Militärs an der Führungsakademie der Bundeswehr (FüAk) ausgebildet (siehe Bundestagsdrucksache 2021/0836499). Gegen Aserbaidschan besteht allerdings ein Waffenembargo der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Trotzdem wurden im Jahr 2020 beim letzten Überfall Aserbaidschans auf Armenien u.a. LKW der deutschen Firma Daimler in Beständen der aserbaidschanischen Armee festgestellt.
Priorität bei der Zusammenarbeit mit Aserbaidschan haben, nach Worten der EU-Kommission, die erfolgreiche Zusammenarbeit bei der Energiekonnektivität und bedeutende Fortschritte beim südlichen Gaskorridor. Dahinter versteckt sich das Projekt, über einen Verbund von mehreren Pipelines das Erdgas aus dem kaspischen Becken über rund 3.500 Kilometer in die EU zu leiten. Dieses Mega-Projekt hat die Kommission bereits mit etwa einer Milliarde Euro aus Steuermitteln subventioniert. Gerade kamen die EU-Kommission und Aserbaidschan überein, im Laufe des Jahres 30 Prozent mehr Erdgas in die EU zu liefern als im Jahr 2021. „Das Gesamtvolumen der Lieferungen nach Europa im Jahr 2022 wird zwölf Milliarden Kubikmeter betragen“, erklärte der aserbaidschanische Energieminister wenige Tage vor dem jüngsten Überfall seines Landes auf Armenien. Die EU hat sich im Juli mit der Regierung in Baku darauf verständigt, die Gasimporte aus Aserbaidschan in den kommenden Jahren zu verdoppeln.
Gleichzeitig ist Aserbaidschan regelmäßig Thema beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der kein EU-Gremium ist, sondern eine unabhängige Institution, die die Einhaltung der europäischen Menschenrechtskonvention überwacht. In seltener Regelmäßigkeit verurteilt der EGMR Maßnahmen der aserbaidschanischen Regierung gegen Oppositionelle, auch bei unzähligen Menschenrechtsorganisationen ist das Land Dauerthema. Oppositionelle und Menschenrechtsaktivisten werden willkürlich inhaftiert und schikaniert, bis hin zu Zwangseinweisungen in die Psychiatrie. „Die Verfolgung und Schikanierung von Regierungskritikern ging weiter. Friedliche Proteste wurden gewaltsam aufgelöst. Die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern und NRO wurde weiterhin durch willkürliche Einschränkungen behindert. Geschlechtsspezifische Gewalt, Folter und andere Misshandlungen waren weiterhin weit verbreitet“, heißt es dazu im aktuellen Länderbericht zu Aserbaidschan von Amnesty International.
Sicherheitspolitisch fällt das Land durch wiederholte völkerrechtswidrige militärische Aggressionen auf, insbesondere gegen den kleineren Nachbarn Armenien. Das Land liegt eingeklemmt zwischen den engen Verbündeten Türkei und Aserbaidschan an der strategisch wichtigen Landenge zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer. In der Nacht des 13. September haben die aserbaidschanischen Streitkräfte eine groß angelegte Militäroperation entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze gestartet. Die Angriffe richten sich gegen Ortschaften am Sewansee, also eine Region, die nicht zum völkerrechtlich umstrittenen Berg-Karabach gehört. In Richtung des grenznahen Ortes Dschermuk sind die aserbaidschanischen Truppen mit den jüngsten Angriffen rund 7,5 Kilometer tief in armenisches Staatsgebiet eingedrungen. Laut Presseberichten starben dabei 135 armenische Soldaten, Aserbaidschan gibt mehr als 70 Tote an.
Erst vor zwei Jahren hatten aserbaidschanische Truppen wochenlang das Gebiet Berg-Karabach angegriffen. Die Region beanspruchen sowohl Armenien als auch Aserbaidschan, bereits in den Jahren 2016 und 2018 hatten aserbaidschanische Truppen die Region attackiert. Dabei wird Aserbaidschan politisch und militärisch intensiv von dem Nato-Mitglied Türkei unterstützt, das selbst völkerrechtswidrig Territorium des Nachbarlandes Syrien besetzt hält und auch im Mittelmeerraum eine expansionistische Politik u.a. gegen die Europäische Union betreibt. Überflüssig festzuhalten, dass sich die Bundesregierung in all diesen Fällen um eine Verurteilung herumdrückt. Als der Journalist Tilo Jung den Sprecher des Außenministeriums danach fragte, von wem die aktuelle Aggression ausging, verwies der darauf, dass keine unabhängigen Beobachter vor Ort seien. Angeblich wisse man nicht, wie die Lage dort ist.
Die außen- und sicherheitspolitische Argumentation der Bundesregierung, die ihr Handeln von Werten und Regeln geleitet sehen will, oder neuerdings sogar von feministischen Prinzipien, erweist sich nicht nur in diesem Konflikt als esoterisches Wortgeklingel. Deutschland und die EU betreiben im Südkaukasus eine eigene Interessenspolitik, sie unterstützen eine Politik der Einflusszonen und sie haben überhaupt keine Probleme, dafür Regime zu benutzen, die für schwerwiegende und systematische Verstöße gegen menschen- und völkerrechtliche Grundprinzipien verantwortlich sind.