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Ein Kind am Fenster hält einen kleinen roten Blumentopf mit einer Pflanze © iStock/Kyryl Gorlov

Alles zusperren – und dann? Frauen und Kinder sind die großen Verlierer der Krise

Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, FOCUS,

Unsere beispiellose Krise trifft diejenigen, die bereits in Armut leben, die kein Homeoffice machen können, die weiterhin „systemrelevant“ ackern, besonders hart. Dass die Krisenbewältigung in Deutschland weitgehend passabel läuft, dafür gilt der Dank in erster Linie den Heldinnen und Helden des Alltags und dem großen Verständnis der Bevölkerung. Doch jetzt wird das Agieren von Bundes- und Landesregierungen zunehmend unübersichtlich.

Es droht ein Chaos, das am Ende auch die Akzeptanz für Maßnahmen untergraben könnte. Wir steuern auf einen Flickenteppich zu. Dass die Corona-Krise mit der Unions-Kanzlerkandidatur zusammenfällt, ist ein Problem. Laschet und Söder sind hier besonders verhaltensauffällig. Es geht aber um das Leben von Menschen und nicht um Karrieren in der Union.

Aktuell geschieht vieles mit härtesten Einschnitten in das normale Leben der Menschen und in die Grund- und Freiheitsrechte. Viele Menschen fürchten um ihre Existenz, viele wissen nicht, wie sie die nächsten Wochen überstehen sollen. Harte Einschränkungen müssen immer wieder diskutiert und begründet werden. Das ist Normalität, das ist Demokratie und keine „Orgie“. Die Maßnahmen müssen enden – so spät wie unbedingt notwendig, aber so schnell wie irgendwie möglich.

Die Privatisierung des Gesundheitssystems war ein Fehler

Zur Notwendigkeit der Einschränkungen kam es auch, weil es zu Beginn diesen Jahres kaum Vorbereitungen gab. Die Corona-Krise wurde zunächst unterschätzt. Warum wurden im Januar keine Masken bestellt und Lager – auch mit Desinfektionsmitteln – aufgefüllt? Warum gab es keine Beschränkungen für Reisen aus Risikogebieten nach Deutschland und keine verbindlichen Tests für Einreisende aus diesen Gebieten? Im Januar oder Februar hätten die Alarmglocken schrillen müssen. Es gab einen Pandemie-Plan des Robert-Koch-Instituts von 2012, der nur abgeheftet wurde.

Auch im größeren Maßstab zeigt diese Krise: Die Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens ist ein Fehler. Jetzt werden Krankenhauskapazitäten geschaffen, die jahrelang wegrationalisiert wurden.

1,8 Millionen Alleinerziehende werden im Stich gelassen

Millionen Kinder sollen noch monatelang zu Hause bleiben. Das kann untragbare soziale und psychische Kollateralschäden bedeuten. Kinder, Frauen und Familien drohen die Verlierer der Corona-Krise zu werden. Großen Kaufhäusern wird teilweise erlaubt, wieder zu öffnen, aber Kindern wird verboten, sich auf eine Schaukel zu setzen. Absurd!

1,8 Millionen berufstätige Alleinerziehende, fast alles Frauen, werden im Stich gelassen, wenn es nicht bald Betreuungslösungen für die Kinder gibt. Bis dahin muss es Kompensationen geben: Der Staat kann nicht für junge Familien alles zusperren und dann nichts weiter tun. Wir brauchen ein Corona-Elterngeld!

Die Bundesregierung hinkt dem Verhalten der Bürger deutlich hinterher

Ich erlebe in dieser Zeit eine unglaubliche Solidarität und großes Verantwortungsbewusstsein in unserem Land. Viele Menschen ziehen mit. Die Bundesregierung muss nachziehen. Wann gibt es in jedem Altenheim ausreichend Masken? Wann kommt eine freiwillige, datenschutzrechtlich unbedenkliche App? Wann gibt es flächendeckend Tests – auch auf Antikörper? Die Bundesregierung wollte mit den ersten harten Maßnahmen Zeit gewinnen. Im April ist zu wenig geschehen.

Dass die Bundesregierung fünf Tage vor dem Lockdown die Militärausgaben für die kommenden Jahre um sechs Milliarden Euro erhöhte, ist unverantwortlich. Der Grund sind unter anderem neue Kampfflugzeuge. Gleichzeitig stehen die Pflegeprämie für die Heldinnen und Helden des Alltags und die Grundrente auf der Kippe. Das ist ein Skandal! Die Bundesregierung hinkt dem beeindruckenden Verhalten der Bürgerinnen und Bürger deutlich hinterher. Das muss sich umgehend ändern.

FOCUS,