Die Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine schriftliche Frage von Gökay Akbulut zeigt einen wesentlichen Fehler der Bundesregierung bei der Evakuierung von Ortskräften aus Afghanistan auf: Die meisten Betroffenen erhielten erst während oder sogar nach der Evakuierung eine Zusage zur Aufnahme. Dadurch konnten viele Schutzbedürftige die Chance nicht mehr nutzen, das Land bei der Luftbrücke im August mit Bundeswehr-Maschinen zu verlassen.
Gökay Akbulut: „Die Zahlen zeigen: Die Bundesregierung hat sich vor ihrer Verantwortung viel zu lange gedrückt. Die Sicherheit ihrer verbündeten afghanischen Ortskräfte hatte offenbar keine Priorität. Die allermeisten Aufnahmezusagen erfolgten erst, als die militärische Evakuierungsmission längst im Gange war. Viele Ortskräfte erhielten ihre Aufnahmezusage sogar erst, nachdem der letzte Flieger abgehoben war. Tausende Ortskräfte und ihre Familienangehörigen sitzen wegen dieser unverantwortlichen Versäumnisse der Bundesregierung immer noch in Afghanistan fest. Sie müssen sich in Angst und Schrecken vor den Taliban verstecken, doch lange können sie nicht mehr durchhalten. Die Bundesregierung muss deshalb alles tun, um diese Menschen zu retten. Das ist den Betroffenen auch schuldig.“
18.619 Aufnahmezusagen – die meisten kamen viel zu spätNach Angaben des Innenministeriums wurden vom 15. Mai 2021 bis zum 31. Oktober 2021 insgesamt 18.619 Aufnahmezusagen für Ortskräfte (OK) und ihre Familienangehörigen (FA) erteilt (4.332 Ortskräfte, 14.287 Familienangehörige).[1] Wie viele „Werkvertragsnehmer“ hierunter waren und wie viele Ablehnungen es gab erklärt das BMI nicht (hierzu wurde eine Nachfrage gestellt). Von den 18.619 Zusagen wurden 11.866 erst während der militärischen Evakuierung ab Mitte August gegeben.[2]
Das heißt, fast zwei Drittel (64 Prozent) aller Zusagen erfolgten innerhalb der elf Tage von Mitte bis Ende August, in denen die Luftbrücke unter extrem unsicheren und unklaren Bedingungen stand. Hier sticht insbesondere das Entwicklungsministerium mit knapp 9.000 Zusagen hervor.
Besonders erstaunlich ist, dass weitere 4.119 Aufnahmezusagen sogar erst nach Beendigung der Evakuierungsflüge ausgesprochen wurden: Vom 28. August bis 26. September 2021 gab es 3.262, vom 27. September bis 31. Oktober 2021 weitere 857 Aufnahmeerklärungen.
Ein Grund für die späten und kurzfristigen Aufnahmezusagen war, dass das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung noch bis zum 23./24. August daran festhielten, dass nur solche afghanischen Ortskräfte (und ihre Angehörigen) berücksichtigt werden sollten, die in den vergangenen beiden Jahren als Ortskräfte gearbeitet hatten. Das Bundesverteidigungsministerium und das Bundesinnenministerium hatten diese Auflage bereits am 16. Juni aufgehoben, kurz vor Beendigung des Abzugs der Bundeswehr aus Afghanistan am 30. Juni.
Die Aufnahmezusagen verteilen sich auf die vier beteiligten Ministerien wie folgt:
Bundesverteidigungsministerium: 3.536 (717 OK und 2.819 FA)
Bundesinnenministerium: 521 (108 OK und 413 FA)
Auswärtiges Amt: 3.118 (930 OK und 2.188 FA)
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit: 11.444 (4.332 OK und 8.867 FA)
[1] Nach Agenturmeldungen erklärte ein Sprecher des BMI am 30. August 2021, der Bundesregierung seien mehr als 40.000 Ortskräfte (inkl. Familienangehörige) in Afghanistan bekannt, zu Beginn der Evakuierungsmission Mitte August seien nur 174 Ortskräfte bekannt gewesen, mit Familienangehörigen 886 Personen.
Zu den Ortskräften käme noch eine „hohe vierstellige Zahl“ von Menschen hinzu, für die Deutschland verantwortlich sei (Menschenrechtler usw.) – diese Zahl belief sich zuletzt auf ca. 6.000 (2.800 plus Familienangehörige, die aber noch nicht abschließend erfasst waren, Drs. 19/32677, Frage 19).
[2] Die militärische Evakuierungsmission lief vom 16. August bis 27. August 2021, 5.347 Menschen wurden dabei ausgeflogen (ebd.), unter ihnen 138 Ortskräfte mit 496 Angehörigen (Angaben BMI vom 30.8.).