Eine Woche nach Beginn der von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ausgerufenen „Bilanzdebatte“ will die Bundesregierung am 13. Oktober mit einem Großen Zapfenstreich vor dem Berliner Reichstag den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan würdigen.
Ein solches Militärspektakel ist insbesondere nach 20 Jahren gescheitertem Krieg in Afghanistan ebenso wenig angemessen wie die am 6. Oktober im Schatten der Sondierungsgespräche vom Verteidigungsministerium abgehaltenen Diskussionsveranstaltung, der neben zahlreichen Bundestagsabgeordneten auch Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) fernblieb. Damit die Bilanzdebatte zum Afghanistan-Krieg nicht zu einer unwürdigen Politposse verkommt, die im Wesentlichen auf dem Rücken der Soldaten der Bundeswehr ausgetragen wird, bedarf es einer kritischen und vollumfänglichen Aufarbeitung durch den neuen Deutschen Bundestag.
Wie wenig die Bundesregierung an einer ehrlichen Bilanz interessiert ist, zeigt auch ihre Antwort auf meine Kleine Anfrage [PDF]. Trotz hunderttausender Toter und Verletzter, Kriegsverbrechen der NATO sowie der Kooperation der Besatzungstruppen mit Warlords und einer durch und durch korrupten Marionetten-Regierung in Kabul lässt die Bundesregierung darin jedwede Selbstkritik missen. Ihre Antworten zeichnen vielmehr ein verheerendes Bild absoluter Realitätsverweigerung und hinterlassen den Eindruck, dass das Ergebnis der Bilanz seitens der Bundesregierung bereits vorab feststeht.
So behauptet die Bundesregierung, dass die Ausbildung der afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte, der Aufbau staatlicher Strukturen und die Unterstützung der Zivilgesellschaft im Rahmen der Militärmission erfolgreich gewesen seien. Das erscheint schon angesichts der kompletten Niederlage des Westens und dem Wiedererstarken der Taliban nach zwanzig Jahren NATO-Krieg in Afghanistan surreal. Besonders absurd ist dies jedoch vor dem Hintergrund, dass die Bundesregierung keinerlei Kenntnisse über die aktuelle Situation bzw. den Verbleib der von der Bundeswehr ausgebildeten Angehörigen der afghanischen Armee und Spezialkräfte des afghanischen Innenministeriums hat. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass ein großer Teil von ihnen inzwischen bei den islamistischen Taliban im Einsatz ist.
Realitätsfremd ist auch die Behauptung der Bundesregierung, dass das deutsche zivile Engagement zur Entstehung eines demokratisch kontrollierten Staatswesens hat beitragen können, das sich zur Wahrung universeller Menschenrechte bekennt, zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung, zum Zugang zu Bildung sowie insbesondere zur Stärkung der Rechte von Frauen und Kindern. Vor dem Hintergrund der allgemeinen gesundheitlichen Situation, der Kinder- und Müttersterblichkeit im Besonderen, aber auch der desolaten Ernährungssituation ist dies blanker Zynismus. Kein Wunder, verschlang doch der militärische Einsatz der Bundeswehr mit 12,4 Milliarden Euro den größten Teil der mehr als 17 Milliarden Euro, die seit 2001 von deutscher Seite ausgegeben wurden. In Projekte des Entwicklungsministeriums flossen seit 2001 rund 2,46 Milliarden Euro. Lediglich rund 425 Millionen Euro wurden in diesem Zeitraum für humanitäre Hilfe bereitgestellt. Das entspricht in etwa dem Wert der im Zeitraum 24. Oktober 2017 bis 10. August 2021 erteilten Einzelgenehmigungen für die Ausfuhr von Rüstungsgütern nach Afghanistan.
Was aus den seit 2001 für die Ausfuhr nach Afghanistan genehmigten Waffen nach der Übernahme der militant-islamistischen Taliban geworden ist, kann die Bundesregierung nicht sagen. Laut Medienberichten ist bekannt, dass ein großer Teil des von den USA bereitgestellten Waffenarsenals der afghanischen Streitkräfte, darunter Hunderttausende Schusswaffen, Zehntausende Fahrzeuge und Millionen Schuss Munition, in die Hände der Terroristen gefallen ist. In anderen Worten: Durch den „Krieg gegen den Terror“ der NATO hat sich die Taliban zur bestausgerüsteten islamistischen Terrormiliz der Welt entwickelt.
Ob von Deutschland gelieferte Rüstungsgüter an bestimmte Streitkräfte wie Kanada, die Niederlande oder Ungarn in Afghanistan noch in deren Besitz sind, scheint für die Bundesregierung aber nicht von Interesse zu sein. Weder hat sie bisher Kontakt zu diesen Ländern aufgenommen, um zu prüfen, was mit dieser Ausrüstung geschehen ist, noch hat sie dies vor. Ähnlich ahnungslos geht sie mit dem Verbleib des 2017 genehmigten Exports von Flugkörperabwehrsystemen für Luftfahrzeuge und Teilen dafür an Afghanistan um. Auf die Frage, was mit den 56 handelsüblichen Autos mit einem Gesamtrestwert von 387.000 Euro und den fünf handelsüblichen Sonderfahrzeugen wie Gabelstaplern mit einem Gesamtrestwert von 66.000 Euro geworden ist, die an das afghanische Verteidigungsministerium zur Nutzung für die Streitkräfte abgegeben wurden, hat sie ebenfalls keine Antwort. Das meiste dürfte sich jetzt in den Händen der militant-islamistischen Taliban befinden.
Das alles macht deutlich: Die Bundesregierung hat keinerlei Interesse an einer ehrlichen Bilanz des Afghanistan-Einsatzes, geschweige denn daran, Lehren aus der Niederlage am Hindukusch zu ziehen. Um ein ähnliches Fiasko in Mali zu verhindern, braucht es aber eine schonungslose und zielführende Aufarbeitung der desaströsen Regime-Change-Politik. Statt den Afghanistan-Krieg weiter in Pastelltönen zu malen, muss der Bundestag einen Untersuchungsausschuss einberufen.