Von Cornelia Möhring, stellvertretende Vorsitzende und frauenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Am 12. November jährt sich die Einführung des Frauenwahlrechts zum hundertsten Mal, im Januar 1919 durften Frauen zum ersten Mal wählen und sich wählen lassen. Am 19. Februar 1919 eröffnet Marie Juchacz ihre Rede als erste Frau in der Weimarer Nationalversammlung: „Meine Herren und Damen! Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als freie und gleiche im Parlament zum Volke sprechen kann […]. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“
Das Frauenwahlrecht war das Ergebnis eines harten und erbitterten Kampfes – auf der Straße und im Parlament. Ergebnis eines breiten Bündnisses von bürgerlichen Frauen bis Proletarierinnen und Sozialistinnen .
Und, wir können mehrfaches lernen: Zum einen, dass politische Rechte immer das Ergebnis von Kämpfen sind. Wer Rechte besitzt und wer von ihnen ausgeschlossen wird, ist eine Frage gesellschaftlicher Aushandlung, die in die eine oder andere Richtung beantwortet werden kann. Während heute – zumindest formal – das Wahlrecht nicht mehr an ein bestimmtes Geschlecht gebunden ist, ist es noch immer an die Staatsbürgerschaft gekoppelt und organisiert darüber, wer im Besitz dieses Rechtes ist und wer nicht. Nicht alle, die hier leben, dürfen mitbestimmen, wer im Parlament sitzt und Entscheidungen fällt, die sie betreffen. Ob das so bleibt, hängt davon ab, ob wir es schaffen, ein Bündnis zu schmieden, dass die Unteilbarkeit von Rechten durchsetzt.
Zum anderen lässt sich nach 100 Jahren resümieren, dass der Kampf um politische Gleichstellung und Partizipation von Frauen noch lange nicht beendet ist. Seit 1919 gab es noch kein einziges Parlament, in dem Frauen gleichberechtigt vertreten waren. Aktuell sind gerade einmal 30,7 Prozent aller Abgeordneten des Bundestags weiblich.
Das formale Recht, sich als Kandidatin aufstellen lassen zu können, reicht eben bei Weitem nicht. In gewisser Weise ist der erfolgreiche Kampf um den Zugang zur parlamentarischen Bühne ein Lehrstück über die Begrenztheit eben dieser: Denn solange nicht auch gesellschaftliche Strukturen in Frage gestellt und aufgebrochen werden, wird sich auch an den parlamentarischen Verhältnissen wenig ändern.
Es ist nicht nur ein an männlichen Norm-Biografien orientierter Politikbetrieb und eine durch jahrzehntelange männliche Dominanz entstandene Diskussions- und Arbeitskultur, die Frauen noch immer ausschließt oder ihnen zumindest einen deutlichen Mehraufwand abverlangt, um als gleichberechtigte Politikerin auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden. Vor allem die schlechtere Bezahlung von Frauen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt und die geschlechtliche Arbeitsteilung, die Frauen noch immer den Großteil der unbezahlten Haus- und Sorgearbeiten zuweist, führen dazu, dass es Frauen oftmals sowohl an finanziellen als auch zeitlichen Ressourcen mangelt, die aber wiederum notwendig für politische Arbeit in Parteien und Institutionen sind.
Es sind also insbesondere Frauen mit geringem Einkommen und hoher Sorgeverantwortung für Andere, die ihr passives Wahlrecht am wenigsten realisieren können. Es sind Alleinerziehende, pflegende Angehörige, Frauen aus dem Niedriglohnsektor und viele andere marginalisierte Frauen –die am stärksten unter der herrschenden Politik leiden. Gerade sie wären für einen sozial gerechten gesellschaftlichen Wandel notwendig. Schon Clara Zetkin hat 1907 in ihrem Referat zur Frage des Frauenwahlrechts auf der Konferenz sozialistischer Frauen betont, dass das Wahlrecht eine unterschiedliche Bedeutung für Frauen entsprechend ihrer Klassenlage hat: „Für die Frauen hat das Wahlrecht praktisch eine ganz verschiedene Bedeutung je nach dem Besitz, über den sie verfügen, oder der Besitzlosigkeit, unter der sie leiden. Und zwar steht im allgemeinen der Wert des Stimmrechts für sie in umgekehrtem Verhältnis zur Größe ihres Besitzes.“
Wenn wir also für die politische Gleichberechtigung und Partizipation von Frauen kämpfen, müssen wir immer an beidem ansetzen: Wir müssen den formalen Zugang zur parlamentarischen Arena für Frauen verbessern, wir brauchen ein paritätisches Wahlrecht, also die Verpflichtung der Parteien, Wahllisten paritätisch aufzustellen – ohne einen solchen Druck wird sich wohl auf absehbare Zeit wenig an den verkrusteten parteipolitischen Mechanismen ändern. Wir müssen aber auch an den Strukturen ansetzen, die Frauen und insbesondere zeitlich und ökonomisch arme Frauen ausgrenzen. Zentral ist hier der Kampf gegen Lohndiskriminierung und für höhere Löhne, genauso wie der um die Umverteilung von Sorgearbeit und Zeit durch bessere Kinderbetreuungsangebote und eine sozial gerechte Pflegeinfrastruktur. Und wir müssen deutlich machen: Diese sozialen Kämpfe sind immer auch solche um gesellschaftliche Teilhabe und politische Partizipation.