Am 2. Juni 2018 fand im Rathaus Wittenberge in der Prignitz unter dem Titel „Neue Wege übers Land“ eine Konferenz zur Zukunft ländlicher Räume statt. Über 70 Teilnehmer*innen waren der Einladung gefolgt.
Vor dem Hintergrund, dass die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands nach wie vor in ländlichen Räumen zu Hause ist und die Grenzen städtischen Wachstums zunehmend deutlicher werden, sollten die Herausforderungen für das Leben in ländlichen und/oder strukturschwachen Räumen in dieser Tagesveranstaltung eingehend thematisiert werden. Insbesondere Fragen sozialer Infrastruktur, von Mobilität und Digitalisierung sowie der demokratischen Kultur und politischer Mitbestimmung wurden in drei parallel-laufenden Workshops besonders in den Fokus gerückt.
Den Auftakt bildete die Begrüßung des Bürgermeisters der Stadt Wittenberge, Herrn Dr. Oliver Herrmann, der auf die Rolle der Infrastruktur verwies, die es erlaube, Tagungen wie diese auch am vermeintlichen Rand durchführen, und dafür warb, auch auf das zu schauen, was gerade in ländlich geprägten Regionen besser funktioniere, und nannte die freiwillige Feuerwehr wie im Allgemeinen die Bereitschaft, sich ehrenamtlich einzubringen.
Diesen Gedanken nahmen auch Dr. Kirsten Tackmann, MdB, und Steffen Kludt, Vorsitzender der RLS Brandenburg, auf, die für die Veranstalterinnen begrüßten, und formulierten die Hoffnung, zum einen anzuerkennen, dass viele Menschen in ländlichen Räumen leben, weil sie es gern tun – nicht, weil sie nur noch nicht weggekommen sind. Dafür bräuchten sie aber ein paar Voraussetzungen und neben der klaren Problembeschreibung auch Unterstützung bei der Lösungssuche. Zum anderen wurde die Hoffnung insbesondere an die Politik ausgesprochen, die Entwicklungen in Stadt und Land nicht gegeneinander auszuspielen.
Manuel Slupina vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung eröffnete in seinem Vortrag eine wissenschaftliche Perspektive und stellte Untersuchungsergebnisse vor, die die Studie „Neue Ideen vom Runden Tisch“ ergeben hat. Untersucht wurde darin das Programm „Land mit Zukunft“ in Hessen, welches vom Grundgedanken getragen war, dass dort, wo Menschen auf Probleme stoßen, auch die Ideen zur Lösung entstehen. Somit ging es in erster Linie nicht um Geld und Investitionen, sondern um die Begleitung von Runden Tischen und die (kleinteiligere) Förderung dort entstandener Ideen. Das Wichtigste daran war, dass die Menschen vor Ort erleben konnten, dass ihre Ideen und ihr Engagement zu konkreten Verbesserungen führen und das Gemeinschaftsgefühl, der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt wurden.
Heidrun Bluhm, MdB und Sprecherin der Bundestagsfraktion für die ländlichen Räume, zeichnet die politische Perspektive auf die Entwicklung ländlicher Räume. Vor allem die bevorstehende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik auf EU-Ebene, die die Förderung der ländlichen Entwicklung beinhaltet, und eine ressortübergreifende und integrierte Politik für die ländlichen Räume stünden auf der bundespolitischen Agenda. Eine solide Förderung aus einem Guss, die vielseitig anwendbar den sehr unterschiedlichen Potentialen und Herausforderungen der ländlicher Gemeinden gerecht wird und eine Strukturpolitik, die vor allem über die Digitalisierung ganz neue Wertschöpfungspotentiale eröffnet, seien wichtige Ziele, die es politisch zu forcieren gelte.
Zum Abschluss des ersten Teils kamen dann Menschen zu Wort, die vor Ort leben und keineswegs bloße Objekte wissenschaftlicher Untersuchungen sein wollen. Die Fotokünstlerin Kathrin Ollroge gab ihnen in ihrer Text-Foto-Collage (Fotos: Kathin Ollroge) eine Stimme – zusammengestellt aus Gesprächsprotokollen, die in den vergangenen Jahren unter anderem in Ostprignitz-Ruppin oder im Westhavelland entstanden sind und einen intimen Blick in sehr differenzierte Wahrnehmungen und Wünsche erlauben.
Im zweiten Teil der Konferenz wurden in drei Workshops spezifische Schwerpunktthemen der ländlichen Entwicklung näher beleuchtet.
Workshop I: Soziale Ankerpunkte
Moderiert von Bettina Fortunato, MdL Brandenburg
Im Workshop „Soziale Ankerpunkte“ stellte Dirk Bruhn (Bürgermeister der Gemeinde Siedenbrünzow) einen kommunalen Kleinstkindergarten vor, der aktuell 9 Kinder betreut und durch das Engagement der Gemeinde und vor allem der Erzieherinnen allen Widrigkeiten zum Trotz besteht. Dabei wurde deutlich, wie wichtig gerade in diesem Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge die Verantwortung der Verwaltung ist. Auf Dauer funktionieren solche ambitionierten Projekte nicht ohne flexiblere Förderprogramme, die Einbeziehung von Betrieben und Gewerbe der Region oder durch intelligente Personalkonzepte. Genannt wurde in der Debatte das Beispiel der Filialschulen in Südtirol mit einer gemeinsamen Personalverwaltung, um Krankheiten, Urlaub oder auch Weiterbildungen in Kleinsteinrichtungen kompensieren zu können. Wilhelm Gröll berichtete von seinen Erfahrungen in der Beratung von Dorf- und Nachbarschaftsläden, die je nach Region und Bedürfnissen vor Ort sehr unterschiedlich aufgestellt sind – sich aber selbst tragen müssen und häufig Lebensmittelversorgung, Dienstleistungsangebote wie Post, Lotto oder Rezeptversand mit Tagescafé, Mittagsversorgung, einem Veranstaltungsraum oder Räumlichkeiten für private Feiern sowie öffentlichen Einrichtung wie Bibliothek oder Gemeindeverwaltung verbinden. Gerade deshalb haben sie sich vielerorts als (neues) Dorfzentrum etabliert, manchmal auch gegen die Vorbehalte der Gemeindeverwaltung. Die Diskussion thematisierte vor allem die Erfolgsbedingungen für solcherlei Konzepte: so gibt es in Baden-Württemberg zum Beispiel Beratungsgutscheine für die Bürgerinitiativen, auch ließen sich investive Mittel über die Städtebauförderung akquirieren und nicht zuletzt könnte sie durch die Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen Existenzgründern in der Förderung gleichgestellt werden. Vor allem aber lebt ein Dorfladen von regionalen Wirtschaftskreisläufen und vom Rückhalt bei den Menschen vor Ort.
Workshop II: Mobilität und Digitalisierung
Moderiert von Anke Schwarzenberg MdL Brandenburg
Im Workshop „Mobilität und Digitalisierung“ nahmen die Teilnehmer*innen die drei Input-Referate von Axel Schulz (Stellv. Verbandsgeschäftsführer des Kommunalen Zweckverbandes Breitband Altmark), Martin Talmeier (Hasso-Plattner-Instituts für Digital Engineering) und Dr. Tim Lehmann (Mobilitätsforscher; ium-institut für urbane mobilität) zum Anlass, um Probleme aus ihren Kommunen und Wirkungsbereichen vorzutragen, Anregungen aus den Inputreferaten weiterzuentwickeln und auf ihre eigenen Wirkungsbereiche anzupassen sowie Umsetzungsbeispiele vorzutragen. Die häufigste Problemstellung waren schlechte Rahmenbedingungen, Unterschiede zwischen Wunsch und Wirklichkeit und das fehlende Einbinden der Nutzer*innen und Endverbraucher*innen bei der Entwicklung von Zieldefinitionen. Aber auch fehlender politischer Wille wurde genannt. Als Chance bei der Umsetzung von zukunftsweisenden Konzepten und Visionen wurde festgestellt, dass sich nicht alles dem Diktat der Wirtschaftlichkeit unterordnen und möglichst an konkreten Projekten vor Ort gearbeitet werden sollte. Denn bei diesen könnte durch individuell angepasste Bedingungen der Nutzungsfaktor zum Wohle aller erhöht werden. Einig war man sich, dass ohne Fördermittel vieles allerdings kaum umsetzbar sei. Die Standortunabhängigkeit durch die Digitalisierung wurde als eine zentrale Chance für den ländlichen Raum gesehen. Durch einen Perspektivwechsel auf die Problemlagen könne eine schnellere Umsetzung erreicht werden. Mit dem Selbstverständnis, dass die Digitalisierung zur Daseinsvorsorge gehört, mit dem Wunsch, dass die Landespolitik die Kommunalpolitik bei überregionalen Problemlösungen mehr unterstützt und vielleicht auch an die Hand nimmt, und mit viel Beharrlichkeit können nach den Teilnehmer*innen die Probleme des ländlichen Raums in Sachen Digitalisierung und Mobilität nachhaltig gelöst werden.
Workshop III: Demokratische Kultur und politische Mitbestimmung
Moderiert von Kerstin Kassner, MdB
Der Workshop „Demokratische Kultur und politische Mitbestimmung“ öffnete unterschiedliche Perspektiven auf die Formen und Bedingungen politischer Mitbestimmung und Bürgerschaftlichen Engagements. Dr. Michael Thomas, Mitglied der Enquetekommission „Zukunft der ländlichen Regionen vor dem Hintergrund des demografischen Wandels“ im Landtag Brandenburg, referierte einleitend zu den Ansprüchen an politische Beteiligung und die damit verbundenen Herausforderungen sowie die Ermöglichung und Notwendigkeit von „Selbstverantwortung“ für das demokratische Verständnis in ländlichen Räumen. Dr. Kurt Krambach skizzierte mit der Konzeption einer Dorfbewegung als einer konkreten Form der direkten Demokratie ein Beispiel, das bereits in anderen EU-Ländern existiert. Dr. Elisabeth Berner zeigte am Beispiel des Niederdeutschen, welch bedeutende Rolle Sprache als Identifikationsfaktor bei der ländlichen Entwicklung spielen kann und welche Potentiale sich dadurch für den ländlichen Raum entfalten können. Größere Entscheidungsspielräume für Bürgerhaushalte, Ortsteilbudgets und Dorfversammlungen waren einige der Ideen und Forderungen, die im weiteren Verlauf des Workshops diskutiert wurden, ebenso wie Defizite des aktuellen Kommunal- und Beteiligungsrechts etwa bei der Einschränkung der kommunalen Planungshoheit, der zu geringen Finanzkraft der Kommunen oder den eingeschränkten Rechten von Ortsbeiräten.
Nach der Vorstellung der Ergebnisse aus den Arbeitsgruppen im Plenum konzentrierte sich die grundlegende Diskussion schließlich auf den „Appell von Wittenberge“, der in insgesamt zehn Punkten die wichtigsten Forderungen und Aspekte für eine zukunftsweisende Entwicklung Ländlicher Räume benennt. Der Appell wurde als Ergebnis der Konferenz auf der Konferenz gemeinsam diskutiert und erarbeitet und von vielen der Teilnehmenden unterzeichnet.