Nürnberg, draußen ist es ungemütlich, nasskalt. Ingo Gerth wärmt sich auf im Café. Seine Finger umklammern das Teeglas. Grüne Fäden sinken aus dem Teebeutel ins heiße Wasser. Die Hände sind von der Kälte dunkelrosa geworden, beinahe passend zu seiner Arbeitskleidung. Auf dem Jackenärmel prangt der Schriftzug Foodora. »Das ist auch das Einzige, was die uns stellen«, erzählt Ingo Gerths, »der Werbung wegen. Thermokleidung müssen wir selbst kaufen. Ohne die hält man es im Winter auf dem Rad nicht aus.« Mit dem 19-jährigen Foodora-Radfahrer und mit Laura Schimmel von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) bin ich im Nürnberger Literaturcafé verabredet. Die beiden kennen sich seit Langem: Sie organisieren die Rebellion der Rider.
Mit dem rollenden R auf bayerische Weise rechnet Gewerkschaftsfrau Laura Schimmel vor: »9 Euro Stundenlohn, minus eigenes Rad, minus eigenes Handy mit selbst zu zahlendem Datenvolumen, minus teure Fahrradklamotten, da sind wir schnell unterm Mindestlohn.« Die Arbeitsbedingungen bei den Essenslieferern sind, sobald man hinter die Kulissen schaut, schlecht. Foodora, Lieferando und Deliveroo begannen als Start-up-Unternehmen und breiteten sich rasant auf dem deutschen Markt aus. Lieferando als Erster im Jahr 2008, 2014 folgte Foodora, ein Jahr später Deliveroo. Die jeweiligen Fahrerinnen und Fahrer werden über Apps und Internetplattformen gesteuert. Beschäftigt werden sie in der Regel als Soloselbstständige oder nur mit Zeitverträgen.
Der Trick zur Verhinderung von Betriebsräten
Immer noch, erklärt Laura Schimmel, argumentieren Foodora, Deliveroo und Lieferando mit ihrer Start-up-Philosophie. »Wir sind hip, wir sind jung, ein kleines Unternehmen mit flachen Hierarchien. Also brauchen wir auch keine Betriebsräte.« Im Klartext bedeutet das, Mitbestimmung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist unerwünscht. Wahr ist: Foodora begann als Start-up. Doch inzwischen hat der Lieferdienst einen Börsengang hinter sich. »Da könnten auch Nestlé oder Coca-Cola sagen, wir sind ein Start-up«, sagt die Gewerkschaftsfrau. Seit knapp einem Jahr existieren bei Foodora nun Betriebsräte an den Standorten Köln und Hamburg. Anderswo, in Münster beispielsweise, wird mit allen Mitteln versucht, die Gründung genau dieser zu verhindern.
Ingo Gerth wurde Foodora-Lieferant aus Liebe zum Radsport. Das Geld braucht er für sein Studium. Das Hauptproblem sei, sagt er, »wir Fahrer sehen uns nicht in einem Betrieb, nicht an einem Ort. Wir radeln durch die Stadt und kennen einander gar nicht.« Viele Foodora-Fahrer hätten noch nie mit einem Kollegen gesprochen, obwohl sie seit einem Jahr für dasselbe Unternehmen fahren.
Bei Deliveroo in Köln wurde im Februar 2018 ein Betriebsrat gegründet. Das Unternehmen ließ daraufhin alle bis dahin bestehenden Arbeitsverträge auslaufen und beschäftigt seither nur noch Freelancer. Ohne festangestellte Fahrerinnen und Fahrer braucht es auch keinen Betriebsrat, so die Logik des Unternehmens. Die frisch gegründete Beschäftigtenvertretung existierte somit nicht mehr.
David gegen Goliath
Nicht für Orry Mittenmayer. Der Betriebsrat von Deliveroo Köln kämpft den Kampf David gegen Goliath. Mithilfe seines Anwalts zieht er vor Gericht, notfalls bis zur letzten Instanz. Er will die Entfristung seines Vertrags mit Deliveroo erreichen und seinen Status als Betriebsrat erstreiten. Der Student für Politikwissenschaften in Marburg erläutert, »die mit den Lieferdiensten entstandene Plattformökonomie braucht völlig neue Definitionen. Was ist ein Betrieb? Ein Gebäude, ein Büro? Ist nicht auch in unserem Fall ein Handy oder eine App ein Betriebsmerkmal?« Die Antwort der Richter könnte wegweisend für Deutschlands Essenslieferanten sein.
Unter denen hat Lieferando, Tochter des niederländischen Konzerns Takeaway, noch den besseren Ruf. Die Fahrerinnen und Fahrer erhalten 9 Euro Stundenlohn, bekommen ein E-Bike zur Verfügung gestellt und erhalten gegen eine Leihgebühr ihre Arbeitskleidung. Aber auch Lieferando will keinen Betriebsrat zulassen.
Laura Schimmel als Gewerkschafterin sieht darum auch in der Vernetzung der Lieferdienstmitarbeiter untereinander ihre Hauptaufgabe. Unterstützt wird sie von der Facebook-Kampagne Liefern am Limit. Sarah Jochmann ist deren Pressesprecherin. »Im November 2018 wurde die Bezahlung bei Deliveroo umgestellt«, erzählt die ehemalige Fahrerin. Gab es zuvor »pro Auftrag 5,50 Euro plus 2,50 Euro Zuschlag ab 25 Fahrten, wird jetzt pauschal nach Kilometergeld abgerechnet. Im Moment sei das noch völlig intransparent. Aber Frankreich und England zeigen bereits, wie auf die Weise eingespart werden kann: »Dort wurde das Kilometergeld für die Fahrerinnen und Fahrer einfach gekürzt.« Mittlerweile haben Deliveroo und Foodora ein weiteres Schlupfloch gefunden, um Personalkosten zu sparen. Sie »setzen auf Geflüchtete und auf junge Leute aus europäischen Krisenländern«, sagt Laura Schimmel. Es sei eine »neue Herausforderung, sie zu organisieren. Sie kämen aus Ländern, in denen »Gewerkschaften kaum etabliert« seien, so Ingo Gerth, und wo man Angst haben müsste, »gefeuert zu werden, wenn man in eine Gewerkschaft eintritt«.
Ingo Gerth muss los, schnappt sich sein Fahrrad und loggt sich in die App ein: Für acht Stunden Essen ausfahren bei Wind, Kälte und für wenig Lohn. Letzteres will er ändern, gemeinsam mit anderen Fahrerinnen und Fahrern. Denn nur zusammen werden sie erfolgreich sein, mit ihrer Rebellion der Rider.
Kathrin Zappe
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