Der Blick aus dem Taxi, das über die unebenen, von Schlaglöchern durchsetzten Straßen Lissabons die Straßenbahnschienen kreuzt und die für Fotografen faszinierenden Höhen und Tiefen der Stadt unter die Räder nimmt, gestattet einen flüchtigen Eindruck von den Verhältnissen am südwestlichen Ende Europas. Die Geschichte hat ihre Spuren in Architektur und Kultur hinterlassen. Die davon ausgehende Faszination wird durch den Anblick der Straßenrestaurants, der Glasfassaden der Banken und Versicherungen und der protzigen Häuserfronten der Multimillionäre einerseits, der Schlaglöcher, der zerschlissenen Türen und Fenster, der alten Häuser andererseits noch gesteigert. Hier leben Menschen, die nicht mehr danach fragen, wann denn das Haus saniert wird, weil es ja seit Jahrzehnten nicht geschehen ist.
Filipa Pereira ist 24 Jahre alt und sitzt in einem Tuktuk, einem dreirädrigen Elektromobil, das einer modernen Rikscha gleicht, und wartet auf Touristen. »Ich mache das, um mein Studium zu finanzieren und meine Miete zu zahlen«, erzählt die junge Frau. Sie studiere Medizin, habe aber wenig Aussichten, einen Job in Lissabon oder Porto zu bekommen. »Viele von uns müssen es im Ausland versuchen. Bei uns haben die jungen Leute schlechte Karten«, sagt Filipa Pereira. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in den südlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hoch. Die Zahl der arbeitslosen 15- bis 24-Jährigen lag im Frühjahr 2017 in Spanien bei fast 40 Prozent, in Portugal blieb trotz sinkender Tendenz noch immer jeder vierte Jugendliche ohne Job.
Der Stolz vieler Einwohner des kleinen Landes auf ihre Herkunft, auf die einstige Kraft und Macht Portugals im Mittelalter ist der Sorge gewichen, wie man die nächsten Tage und Wochen mit wenig Geld und dürftiger Ausstattung meistern kann. Der Kontrast, den die oft scheinende Sonne am Tejo unerbittlich belichtet, zeigt die Folgen von Mangelwirtschaft und Ohnmacht gegenüber der bekannten und doch fremden Macht Europas aufgrund des Drucks von Wirtschaft und Banken. Nur wer bezahlen kann, vermag sich frei zu bewegen und die Vorteile des Alltags in der für Touristen begehrten Stadt zu genießen. Nur was sich finanziell lohnt, wird bevorzugt, und nur was dem Überleben Lissabons und damit zu großen Teilen Portugals dient, bestimmt mit Farben, Geräuschen und Düften das Stadtbild.
Eine ganz besondere Rolle spielte in Portugal schon immer die Musik. Mit ihrer Hilfe wurde am 25. April 1974 Geschichte geschrieben, als im katholischen Rundfunk Radio Renascença kurz nach Mitternacht das wegen seines kritischen Textes eigentlich verbotene Lied »Grândola, Vila Morena« des antifaschistischen Sängers José Alfonso erklang. Für die militärischen Einheiten der »Bewegung der Streitkräfte« waren die Verse das vereinbarte geheime Signal zum bewaffneten Aufstand. Knapp 18 Stunden später hatte die Nelkenrevolution die älteste westeuropäische Diktatur gestürzt.
Die Regierung bäumte sich vergebens auf, das Volk errang mithilfe von Teilen der Armee den Sieg, die Demokratie begann, und Hoffnungen auf ein besseres Leben kamen auf. Der wirtschaftliche Aufschwung folgte mit dem Anschluss an die Demokratien Europas, die Menschen Portugals frohlockten ob der neuen Chancen. Aber die Ernüchterung blieb nicht aus und erfuhr im Jahr 2015 mit dem Finanzdiktat der EU einen Höhepunkt, die Regierung vermochte der Austerität nicht mehr zu trotzen, der wirtschaftliche und politische Kollaps Portugals drohte.
Seit November 2015 stellen die Sozialisten eine Minderheitsregierung, toleriert vom Linksblock »Bloco de Esquerda« (BE) und dem Wahlbündnis aus Grünen und Kommunisten »Coligação Democrática Unitária« (CDU). Bloco-Fraktionschef Pedro Filipe Soares sieht nach gut einem Regierungsjahr erste Fortschritte. »Wir haben den Mindestlohn erhöht und die Lohnkürzung in der öffentlichen Verwaltung zurückgenommen. Neue Arbeitsplätze konnten schneller als geplant geschaffen werden, und wir fördern das Wirtschaftswachstum«, sagt er. Die Differenzen innerhalb der portugiesischen Linken bleiben jedoch unübersehbar.
Auch wenn sie die Regierung tolerieren, stehen ihr die Partner durchaus kritisch gegenüber, die Portugiesische Kommunistische Partei »Partido Comunista Português« (PCP) allerdings deutlich wortgewaltiger als die anderen. »Nur durch den enormen Druck der PCP konnten einige Privatisierungen gestoppt und die schlimmsten Auswirkungen des neoliberalen Kurses verhindert werden«, sagt José Ãngelo Alves, Mitglied der Politischen Kommission des ZK der PCP. Die Chancen für Veränderungen seien größer als zuvor. Dennoch gebe es noch prekäre Beschäftigung, Arbeitslosigkeit in großem Umfang und zu viel Armut. »Die Rechte der Arbeiter bleiben gefährdet, Mindestlöhne sind eher selten. Größte Sorgen bereiten die niedrige Produktivität und die sinkenden Einnahmen des Landes«, ergänzt Alves.
Die surrenden Elektromotoren der für Touristen eingeführten dreirädrigen Tuktuks, die Mischung aus dem Geruch gebratener Hühnchen und Schweinerippchen oder verbrannter Fischstückchen in den engen Gassen der Alfama, die ungeduldig hupenden Busse der Sightseeingtouren, die so auf sich aufmerksam machen und ihre besondere Rolle auf den Straßen bekräftigen wollen, drängen das Alltagsleben vieler Lissaboner in den Hintergrund. Das Budget der Stadt erarbeiten nicht jene, die hier leben, sondern diejenigen, die ihr Geld sozusagen im Vorbeigehen oder -fahren dalassen.
Alles, was den Touristen und der sie bedienenden Wirtschaft dient, dient am Ende der Stadt. Die Stadt verkauft sich, ein ganzes Land verkauft sich. Den Preis bestimmen andere. Die Europäische Union diktiert den Pulsschlag Lissabons, der Blutdruck Portugals schwankt seit Jahren. Die Energie der Zukunft schwindet, weil viele junge Leute nach der Schule oder dem Studium in anderen Ländern einen Job bekommen und mehr verdienen als im heimatlichen Portugal. Die Alten müssen neben der spärlichen Rente auf Märkten Früchte oder Antiquitäten verkaufen, sie können sich nach einem oft bescheidenen Arbeitsleben nicht zur Ruhe setzen, sondern müssen sich darum kümmern, ihre kargen Einkünfte aufzubessern. Um die größte Not zu lindern, hat die Regierung – allerdings auf niedrigem Niveau – den Mindestlohn und die Mindestrente erhöht.
Für die Kommunisten der PCP beschreibt José Ãngelo Alves die Tolerierung der amtierenden Regierung in Lissabon mangels Alternative als einzige Chance, dass Portugal seine Souveränität wiedererlangt. »Von der Militärdiktatur bis heute hat unser Land schwere Zeiten erlebt. Portugal hat Besseres verdient«, sagt er. In der Kritik fast aller Politiker des Landes am Fiskalpakt der EU herrscht Einigkeit. »Wir müssen Verträge ändern, die Europa knebeln. Der Fiskalpakt ist ein erpresserisches Mittel, das sich gegen die Völker, die öffentlichen Dienstleistungen und die Rechte der Arbeiter richtet. Deshalb müssen wir diesen Vertrag zerreißen und wieder ein solidarischeres Europa aufbauen«, sagt Bloco-Chef Pedro Filipe Soares. Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit nehmen in ganz Europa zu, und nur mit Wachstumspolitik und öffentlichen Investitionen könnten notwendige Arbeitsplätze geschaffen werden. »Das geht nur, wenn man mit der Austeritätspolitik bricht.«
Im Sommer vorigen Jahres wurde Portugals Fußball-Nationalmannschaft Europameister und sicherte sich damit erstmals einen internationalen Titel. Da war es endlich wieder: das lange verloren geglaubte Gefühl von Stolz, Hoffnung und Zuversicht. Und als der portugiesische Sänger Salvador Sobral im Mai 2017 den Eurovision Song Contest in Kiew gewann, kannte der Jubel keine Grenzen. Die Ballade heißt übersetzt »Liebe für zwei«, aber sie bescherte einem ganzen Land unbändige Glücksgefühle.