»Heart’s Fear« (Herzensangst) heißt das Buch von Bettina Kenter-Götte. Damit ist sie auf Lesereise. Zwischen Ost und West, München und Berlin, Leipzig und Frankfurt am Main. Wenn sie ihre Geschichten von Hartz IV, von Armut und Ausgrenzung dem Publikum präsentiert, dann ist das mehr als Vorlesen. Sie liest, wandert zwischen Tisch, Lesesessel und ihrem Publikum, erzählt dabei und schlüpft in verschiedene Rollen. Telefoniert mit dem Jobcenter, landet aber nur in der Antwortschleife, mimt dann den Fallmanager, blättert sich durch 67 Seiten Formulare, die penibel ausgefüllt werden müssen, um Transferleistungen zu erhalten. Das Publikum lacht, es gibt Szenenapplaus, am Ende viele Fragen. Die Schauspielerin schafft, was gute Kunst kann: Sie erreicht Herz und Hirn der Besucher. Und das bei diesem Thema? Bei Hartz IV! Überrascht sie das? »Ja«, sagt die grazile Schauspielerin und glaubt, dass mittlerweile »mehrere Sachen zusammenkommen«. Es gebe »kaum jemand, der überhaupt davon berichten will«, und dann »haben Politiker genau die richtigen Stichworte geliefert. Vorneweg Jens Spahn mit seinen blöden Sprüchen.« In den letzten Monaten sei immer offensichtlicher geworden, »wohin uns die Agenda 2010 getrieben hat«.
Was Bettina Kenter-Götte mit so scheinbar leichter Feder auf 180 Seiten aufgeschrieben hat, war immer mal Teil ihres Lebens. Als freie Schauspielerin, die je nach Auftragslage monatlich sehr unterschiedlich Geld verdiente. Als alleinerziehende Mutter, die mit ihrer kleinen Tochter nicht mehr von Drehort zu Drehort fahren oder abends auf der Bühne stehen konnte. Als Synchrondialogschreiberin und -sprecherin, der – als das Kirch-Imperium pleiteging – die Aufträge und damit das Einkommen verloren gingen. Oder auch als sie durch eine länger Erkrankung erwerbsunfähig wurde. Ihre Lebensbrüche trieben sie zum »Amt«. Insgesamt dreimal, in großen Abständen und jeweils nur temporär. Trotzdem: Fairness und Augenhöhe erlebte sie nie. Doch »geschämt« habe sie sich auch nie, »es war mehr die Fassungslosigkeit, dort gelandet zu sein. Nach so einer Lebensleistung trotzdem dort zu landen.«
Bettina Kenter-Göttes Schauspielkarriere begann mit 19 Jahren: Theater in Italien, Fernsehhauptrolle in Australien, Theater in Maputo, Lyrik- und Autorenpreise, Texte für Kinder, Buchautorin, Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Und doch erlebte sie Armut. Als alleinerziehende Mutter noch im »alten System der Sozialhilfe, 25 Jahre später als Künstlerin die Anfänge und als temporär Erwerbsunfähige dann »Hartz IV in voller Blüte«. »Wer, wenn nicht ich, sollte davon erzählen«, sagt sie. »Ich, die das alles erlebt hat, schreiben kann und wahrscheinlich als Schauspielerin mehr Aufmerksamkeit erregt als jemand, der nicht so einen auffälligen Beruf hat.« Das Vorwort zu diesem schmalen Büchlein schrieb übrigens Katja Kipping, die sich seit Jahren für die Abschaffung von Hartz IV einsetzt.
Seit Kurzem bekommt Bettina Kenter-Götte Rente, sie könnte sich zurücklehnen. Die Demütigungen aber, der fehlende Respekt, der Gang zur Tafel – das alles ist auf ihrer Haut und Seele. Sie zitiert Roberto Saviano, der das Buch »Gomorrha« schrieb: »Schweigen ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können.« Darum fährt sie durchs Land, redet mit ihrem Publikum und sagt, »entschämt euch, ich seid nicht schuld«.
Gisela Zimmer