Das Jahr 2019 muss das Jahr der Sozialproteste in Deutschland werden. Unsere Nachbarn in Frankreich machen erfolgreich vor, dass man mit sozialem Druck etwas erreichen kann. Seit Mitte November demonstrieren die »Gilets Jaunes«, die Gelbwesten, landesweit gegen einen Präsidenten der Reichen und sein autoritär-neoliberales Regime. Sie blockieren Straßen und Mautstellen, den Prachtboulevard Champs-Élysées wie den kleinen Kreisverkehr in der Provinz. Mit ihren Massenprotesten und ihrer Wut haben die Gelbwesten Emmanuel Macron rasch erste Zugeständnisse abtrotzen können. So wurde der Mindestlohn erhöht, ungerechte Steuererhöhungen mussten ausgesetzt werden. Für höhere Löhne, bessere Renten und die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer wird weiter gestritten. Hartz IV à la française gilt es zu verhindern. Die renommierte französische Schriftstellerin Annie Ernaux spricht von einer »Revolution des Volkes«. Zum ersten Mal kommt die in Frankreich nicht aus dem Zentrum, aus Paris. Auf die Barrikaden gehen vor allem die Menschen in den kleinen Städten und auf dem Land. »Es ist ihr Leben, ihre Existenz, die sie auf die Straße treibt«, so Ernaux. Sie haben die Schnauze voll von den täglichen Zumutungen und der fehlenden Anerkennung für ihre Leistungen. Sie haben es satt, dass sich Macron und seine Regierung ums Ende der Welt kümmern, aber nicht ums Ende des Monats, an dem hart arbeitenden Menschen das Geld ausgeht.
Die Straße trotzt den Mächtigen
Die »Gilets Jaunes« haben nicht nur enorme Unterstützung in der französischen Bevölkerung erfahren, allen Krawallbildern aus Paris zum Trotz. Ihre gelben Westen sind längst zu einem globalen Symbol geworden für das Aufbegehren gegen die Arroganz der Mächtigen und Reichen. In Deutschland melden sich die Bedenkenträger zu Wort. Mal wird mit Verweis auf Unterwanderungsversuche des rechtsextremen Rassemblement National (früher: Front National) der französischen Linken empfohlen, sich aus den Sozialprotesten gegen Macron zurückzuziehen, mal wird eine »Verbrüderung« linker und rechter Gruppen in Frankreich halluziniert und vor einer Solidarisierung mit den Gelbwesten im Nachbarland gewarnt. Bundeskanzlerin Angela Merkel findet die Unterstützung der LINKEN für die Protestbewegung in Frankreich schlicht »skandalös« und moniert eine fehlende Distanzierung von Gewalt bei Demonstrationen.
Beides ist schlicht falsch. Wer die Gelbwesten in die rechte Ecke schiebt oder auf die Randalebilder aus den Reichenvierteln von Paris fokussiert, hat offensichtlich nichts verstanden. Die meisten Demonstranten waren bisher überhaupt nicht politisiert und aktiv. Wie Le Monde Mitte Dezember berichtete, wird der Volksaufstand überwiegend von Angestellten und Arbeitern sowie kleinen Selbstständigen getragen, die mit rund 1.700 Euro im Monat über ein unterdurchschnittliches Haushaltseinkommen verfügen. Auch wenn sich Schülerinnen, Schüler und Studierende den Protesten angeschlossen haben, auf der Straße sind vor allem mittlere Altersgruppen, der Anteil von Frauen ist mit 45 Prozent hoch. Arbeitslose und prekär beschäftigte Billigjobber sind eher unterdurchschnittlich vertreten. Politisch bezeichnet sich ein knappes Drittel der Gelbwesten als »weder rechts noch links«. 43 Prozent definieren sich als links, darunter 15 Prozent als ganz links. Knapp 13 Prozent verorten sich selbst als konservativ oder rechts, darunter weniger als 5 Prozent als rechtsaußen.
Soziale Gerechtigkeit für die Vielen
Zu den – nicht zu rechtfertigenden – Gewaltexzessen hat die Schauspielerin und Aktivistin Pamela Anderson in einem weltweit beachteten Twitter-Tweet alles gesagt: »Ich hasse Gewalt … Aber was ist diese Gewalt all dieser Menschen und was sind brennende Luxusautos im Vergleich mit der strukturellen Gewalt der französischen – und globalen – Eliten?« Man dürfe sich nicht von den »brennenden Bildern« ablenken lassen, müsse sich vielmehr die Frage stellen: Wie konnte es zu diesen Ausschreitungen kommen? Anderson erklärt sie so: »Sie entstanden aus der wachsenden Spannung zwischen der städtischen Elite und der armen Landbevölkerung, zwischen einer Politik, für die Macron steht, und den 99 Prozent, die genug von der Ungleichheit haben, nicht nur in Frankreich, sondern in der gesamten Welt.«
Es wäre geradezu fahrlässig und fatal, die Sozialproteste gegen einen Präsidenten der Reichen rechten Demagogen zu überlassen oder sich aus ihnen zurückzuziehen wegen einer Handvoll Idioten. Es ist daher wichtig und richtig, dass sich DIE LINKE in einer Solidaritätserklärung ohne Wenn und Aber hinter die Proteste der Gelbwesten gestellt hat. Doch die Verantwortung ist weit größer: Wichtiger noch wird es sein, den Druck auf die eigene Regierung, auf Kanzlerin Angela Merkel und die große Koalition zu verstärken. DIE LINKE muss jeden Ansatz dazu unterstützen, statt ihn zu diffamieren. Das ist am Ende die größte Unterstützung für die Gelbwesten in Frankreich und ihren Aufstand gegen einen medial als Hoffnungsträger verklärten Präsidenten.
Gegen die Politik für Wohlhabende und große Konzerne braucht es massenhaft Widerstand, gerade auch in Deutschland. Wir finden uns nicht ab mit 4,4 Millionen Kindern in Armut hier, mit Niedriglohnjobs, mit einem mickrigen Mindestlohn und Armut im Alter, während gleichzeitig die Ausgaben für die Aufrüstung der Bundeswehr in immer neue Milliardenhöhen gesteigert und sinnlose Militärmanöver an den Grenzen zu Russland veranstaltet werden. Wir finden uns nicht ab mit explodierenden Mieten, maroden Schulen, fehlenden Kitaplätzen und mieser Bezahlung für Pflegekräfte. Wir lassen nicht zu, dass Betrügerkonzerne länger belohnt werden und die Bürger wie im Fall des Dieselskandals dafür auch noch die Zeche zahlen sollen. Wir lassen nicht zu, dass Rüstungskonzerne weiter Waffen in Krisengebiete exportieren und so immer neue Fluchtursachen schaffen. Wir stehen zusammen und lassen uns nicht spalten. Der Kampf der Gelbwesten ist auch der unsere. Gemeinsam stehen wir auf für soziale Gerechtigkeit, für die Vielen.
Sevim Dağdelen ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE