Ihre Heimatstadt Suruç wurde in Deutschland wegen der Nachbarschaft zu Kobanê in Syrien bekannt, das im Jahr 2014 von der Terrormiliz IS überfallen wurde. Wie sind Sie und die Bevölkerung Suruçs mit den rund 200.000 Geflüchteten umgegangen, die in Ihrer Stadt Schutz suchten?
Orhan Şansal: Die Zahl der Flüchtlinge war fünfmal größer als die Bevölkerung von Suruç. Die Mittel für die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse der Flüchtlinge waren begrenzt. Doch durch die Mobilisierung der umliegenden Bezirke konnten wir innerhalb einer Woche das Problem der Unterbringung lösen und den Geflüchteten täglich drei Mahlzeiten anbieten. Nicht nur die Gemeinde Suruç hat geholfen, es war die kollektive Unterstützung der kurdischen Gesellschaft Nordkurdistans.
Als der Kampf um Kobanê tobte, stand Suruç plötzlich im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit.
Ja, denn Suruç lag direkt hinter der Frontlinie. Zu uns kamen Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt, die sich dem Kampf für Kobanê anschließen wollten. Auch viele Pressevertreter wollten live über den Widerstand gegen den IS berichten.
Als Bürgermeister einer kurdischen Stadt standen Sie später sowohl auf der Fahndungsliste der türkischen Regierung als auch auf der Todesliste des IS. Sie sind dann zunächst in die 400 Kilometer entfernte Kreisstadt Cizre geflohen, in der mehrheitlich Kurdinnen und Kurden leben. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Nachdem die Friedensgespräche zwischen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans, Anm. d. Red.) und der türkischen Regierung von Letzterer abgebrochen wurden, haben in Nordkurdistan gewalttätige Auseinandersetzungen begonnen. Cizre wurde von der türkischen Armee wochenlang belagert und schließlich gestürmt. Ich wurde Zeuge staatlicher Massaker an Zivilistinnen und Zivilisten. Wir mussten mit ansehen, wie auf offener Straße und in Kellern Menschen, darunter viele Kinder, getötet wurden.
Sie haben sich dann entschlossen, nach Deutschland zu fliehen. Wie sind Sie in die Bundesrepublik gekommen?
Zuerst bin ich nach Bulgarien und von dort zu Fuß weiter nach Rumänien gelaufen. In Rumänien wurde ich festgenommen. Ich war zwei Tage in Gewahrsam. Später bin ich von Rumänien nach Ungarn gelaufen. Nach 38 Tagen Fußmarsch habe ich über Österreich Deutschland erreicht.
Sie haben hier einen Asylantrag gestellt, der jüngst abgelehnt wurde. Weshalb?
Mein Asylantrag in Deutschland wurde mit der Begründung abgelehnt, dass ich bereits in Rumänien einen Antrag gestellt hätte. Doch die deutschen Behörden wissen, dass das nicht stimmt. Ich habe dort keinen Antrag gestellt. Ich bin nach Deutschland gekommen, da hier viele Kurdinnen und Kurden leben und ich die Hoffnung hatte, dass Deutschland meine Auslieferung an die Türkei ablehnen wird.
Einige hochrangige türkische Militärs haben in Deutschland Asyl beantragt. Etliche Medien berichten, sie würden hierzulande Schutz genießen, weil Präsident Recep Tayyip Erdoğan alle vermeintlichen Gülen-Anhänger politisch verfolgt. Wie sieht es mit Menschen wie Ihnen aus, die wegen angeblicher Unterstützung der PKK politisch verfolgt werden?
Offen gesagt gibt es in Deutschland aufgrund des Verbots der PKK einen vorurteilsbehafteten Umgang mit uns Kurdinnen und Kurden. Wie vonseiten der Türken auch. Mit uns wird anders umgegangen als mit anderen politisch Verfolgten.
Verhält sich die Bundesregierung in Bezug auf politisch verfolgte Menschen aus der Türkei opportunistisch?
Ja, wegen wirtschaftlicher Interessen werden demokratische Rechte hintangestellt. Die Türkei verlangt von Deutschland die Verfolgung der PKK und die Auslieferung derjenigen, die in der Türkei der Unterstützung der PKK angeklagt sind. Das sind praktisch alle fortschrittlichen Kurdinnen und Kurden.