Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen wird der Bundestag seine Gedenkstunde zum Holocaustgedenktag erstmals den vom Nationalsozialismus verfolgten queeren Menschen widmen. Ich bin dankbar, dass die Bundestagspräsidentin dieses Anliegen aufgegriffen hat.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Wir haben in den letzten Jahren viel getan, um das Unrecht, das die Nazis schwulen und bisexuellen Männern, aber auch lesbischen Frauen oder Trans- und Intermenschen angetan haben, aufzuarbeiten. Aber wir müssen uns auch mit der Zeit nach dem Ende der NS-Diktatur beschäftigen, in der diejenigen, die den Naziterror überlebt hatten, erneut mit staatlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung zu kämpfen hatten.
Die Nazis hatten 1935 den § 175 weiter verschärft. Schon ein gleichgeschlechtlicher Flirt konnte die Freiheit kosten. Viele Tausend schwule und bisexuelle Männer wurden inhaftiert, ins KZ gebracht, kastriert, ermordet. Aber auch andere queere Menschen wurden verfolgt, und dazu ist noch viel Forschungs- und Bewusstseinsarbeit zu leisten, so etwa zu lesbischen Frauen, die als „asozial“ bezeichnet und in Lager verschleppt wurden.
Nach 1945 existierte der verschärfte Paragraf in der DDR bis 1968, in der Bundesrepublik bis 1973 fort. Ganz abgeschafft wurde er erst 1988 bzw. 1994. Die queere Kultur wurde in West und Ost misstrauisch unterdrückt. Sie passte nicht zum piefigen Weltbild eines Adenauer oder Ulbricht.
Schwule NS-Opfer mussten noch lange damit rechnen, erneut verhaftet und von denselben Richtern verurteilt zu werden wie vor 1945. Entschädigung für Haft, KZ oder Kastration zu beantragen, erforderte mehr als Mut und war meist sinnlos. Die Hamburger Polizei überwachte in den 60er-Jahren Travestielokale und ließ deren Shows unterbinden. Der Polizeipräsident sprach vom „Transvestiten-Unwesen“ und forderte die Gerichte auf, von der Möglichkeit der Unterbringung in einem Arbeitshaus Gebrauch zu machen. Und dieselbe Polizeibehörde ließ noch bis 1980 Polizisten durch Einwegspiegel in Männertoiletten gaffen, um homosexuelle Handlungen festzustellen. In der DDR unterband die Stasi noch 1985 das Gedenken für die lesbischen Opfer in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück.
Meine Damen und Herren, ohne die Erinnerung an die Verbrechen des Faschismus und an die Kontinuität der Diskriminierung und Kriminalisierung bis in die jüngere Geschichte bleibt unsere Erinnerungskultur lückenhaft. Wenn wir am 8. Mai der Befreiung vom Faschismus gedenken, dann dürfen wir diejenigen nicht vergessen, deren Befreiung noch lange unvollständig war. Die Verachtung und Ignoranz, die queere NS-Opfer auch nach 1945 noch erleiden mussten, können wir nicht wiedergutmachen. Zu dieser Verantwortung müssen wir uns bekennen, und dafür müssen wir Abbitte leisten. Ich hoffe, dass wir während der Ausschussberatungen darüber einen breiten Konsens herstellen können.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)