Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher! Heute vor 82 Jahren begann die Deportation der Berliner Jüdinnen und Juden in den Tod. Seit vielen Jahren erinnern wir daran an Gleis 17 am Bahnhof Grunewald unter der Überschrift „Nie wieder!“. In keinem Jahr ging es mir so schlecht auf dem Weg zu dieser Veranstaltung wie heute Mittag. Nie wieder? Wir sprachen vor Beginn der Veranstaltung mit Teilnehmenden über das „Schon wieder“.
In der Bundesrepublik wurden seit dem antisemitischen Pogrom am 7. Oktober 2023 202 antisemitische Vorfälle durch den Bundesverband RIAS registriert. Das ist ein Zuwachs um 240 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Was heißt das? Wohnungen von Jüdinnen und Juden wurden markiert; jüdische Schulkinder und Sportler/-innen bleiben zu Hause; aus Solidarität gehisste Fahnen des Staates Israel werden geschändet, wie vorgestern auch in Marzahn-Hellersdorf, wo ich lebe; auf Demonstrationen, im öffentlichen Raum und im Netz machen sich Menschen zum Komplizen der Terroristen, indem sie das Massaker an Jüdinnen und Juden feiern, rechtfertigen oder relativieren. Gestern Abend musste die Berliner Polizei das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas vor Schändung schützen. Und heute Nacht wurde das Gemeindezentrum Kahal Adass Jisroel mit Brandsätzen angegriffen – ein Kindergarten, eine Schule, ein Gotteshaus. Was macht das mit diesen Kindern?
Der Terror der Hamas richtet sich gegen Jüdinnen und Juden, gegen die Demokratie und gegen eine plurale Gesellschaft. Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt schauen seit den Pogromen mit großer Sorge auf den einzigen jüdischen Staat. Es wurde vorhin daran erinnert: Gegründet wurde Israel nach der Shoah als Heimstatt, Heimstatt auch für die Diaspora, als das Versprechen, hier Zuflucht und Schutz zu finden, wenn der Antisemitismus im eigenen Land etwa nicht mehr auszuhalten sein sollte. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sagte heute früh: Wir Juden fühlen uns hier, in unserer Stadt, nicht mehr sicher.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Auch bis zum 7. Oktober 2023 war Antisemitismus ein gesellschaftliches Problem bei uns. Nicht nur die Statistiken, sondern auch die Ereignisse der letzten Jahre sprechen Bände. Und ja, ich bin für einen 360-Grad-Blick in allen gesellschaftlichen Bereichen. Mir ist übrigens egal, ob Antisemiten sich islamistisch, völkisch, rechtsextremistisch oder wie auch immer motiviert fühlen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Sie sind in jedem Fall zu verurteilen und zu ächten. Dabei ist mir auch ziemlich wurscht, welche Staatsbürgerschaft diese Menschen haben. Es muss jetzt unmissverständlich klar sein: Wenn Terroristen morden, dann ist es Zeit für Haltung. Es ist nicht die Zeit für ein „Ja, aber ...“ oder ein „Vielleicht“. Nichts bietet eine Rechtfertigung für diese Attacken.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Und damit zum Schluss. Ich finde, das ist der Maßstab für jedes gesellschaftliche Handeln. Die Kollegin Kaddor hat an das Gespräch mit den muslimischen Verbänden erinnert. Aber wir haben eine eigene Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Lebens. Und morgen, wenn wir über den Staatsvertrag sprechen, werde ich kurz zum Staatsvertrag Ja sagen und werde die Schlussfolgerungen und Empfehlungen der zwei Expertenkreise zum Antisemitismus, die wir hatten, hier noch mal ins Zentrum rücken, weil ich finde: Wir müssen uns mal selbst ernst nehmen und an diesen Dingen arbeiten.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])