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Nationalversammlung 1848: Ein Fortschritt, aber nicht für alle gleichermaßen

von Janine Wissler,

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor 175 Jahren, am 18. Mai 1848, trat in der Frankfurter Paulskirche erstmalig ein deutschlandweites Parlament zusammen: die Nationalversammlung. Dem vorausgegangen waren revolutionäre Erhebungen in weiten Teilen Europas, die in Deutschland, inspiriert und angefacht von der Februarrevolution in Frankreich, am 18. März 1848 gipfelten.

Es ging um soziale Verbesserungen, und es ging um elementare Freiheitsrechte, um Presse- und Versammlungsfreiheit, eine demokratische Verfassung. Schon in den Jahren zuvor waren immer mehr Menschen gegen die wachsende soziale Not auf die Straße gegangen. Die zunehmende Unzufriedenheit führte zu Aufständen, zu Hungerunruhen, zu Streiks. Und trotz Verboten wurden Versammlungen und Kongresse organisiert.

Die Obrigkeit reagierte mit staatlicher Gewalt, mit Verhaftungen und bisweilen mit Exekutionen.

(Zuruf von der AfD)

Am stärksten traf die Repression die aufkeimende Arbeiterbewegung. Bei den Barrikadenkämpfen am 18. März wurden in Berlin über 270 Menschen durch preußisches Militär getötet.

Ich möchte aus einem Artikel im „Vorwärts“ zitieren:

"Rund 85 Prozent der Toten entstammten den besitzlosen Schichten. Es waren … vor allem verarmte Handwerker und Arbeiter*innen. Elf Frauen waren darunter … Auch jüdische Menschen waren überproportional beteiligt."

"Die revolutionären Akteur*innen der Straßenkämpfe waren damit … deutlich diverser als das Paulskirchen-Parlament …"

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genau!)

"Die starke Fokussierung der Erinnerungspolitik auf die Nationalversammlung verstellt damit bis heute den Blick auf revolutionäre Frauen und ärmere Teile der Bevölkerung, die die Revolution mittrugen."

(Beifall bei der LINKEN)

"Zudem waren es erst die auf den Straßen errichteten Barrikaden, die es ermöglichten, dass im Parlament frei über die Zukunft diskutiert werden konnte."

Will heißen: Ohne 18. März keinen 18. Mai.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Nationalversammlung war ein Fortschritt, aber eben nicht gleichermaßen für alle Teile der Gesellschaft. Unter den Abgeordneten des ersten deutschen Parlaments war keine Frau. Es durfte auch keine Frau ihre Stimme abgeben, um die Abgeordneten zu wählen. Und umso wichtiger ist es, dass im Frankfurter Römer derzeit eine Ausstellung gezeigt wird, die die Revolutionärinnen dieser Zeit würdigt.

(Beifall bei der LINKEN)

Wahlberechtigt waren männliche, volljährige und selbstständige Staatsangehörige, was auch viele ärmere Männer praktisch ausschloss. Noch höher waren die Hürden für die Kandidatur: Etwa 1 Prozent der Abgeordneten kamen aus der sogenannten unterbürgerlichen Schicht, darunter kein einziger Arbeiter.

Die Revolution von 1848 scheiterte. „Träg“ und „feig“ sei die Bourgeoisie gewesen, schrieb Karl Marx, keine Hand habe sie gerührt aus Angst vor den sozialen Forderungen der Besitzlosen.

(Unruhe bei der AfD)

Auch der französische Revolutionär Jacques Roux beschrieb schon früh die Schwäche bürgerlicher Freiheitsbewegungen. Er schrieb:

"Die Freiheit ist ein eitles Hirngespinst, wenn eine Klasse von Menschen die andere ungestraft aushungern kann. Die Gleichheit ist ein eitles Hirngespinst, wenn der Reiche mittels seines Monopols das Recht über Leben und Tod seiner Mitmenschen ausübt."

1848 wurde die Hoffnung auf Demokratie enttäuscht. Das Scheitern der Revolution führte zu einer Vorherrschaft des absolutistischen und militaristischen Preußens, das die deutsche Geschichte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägen sollte.

Die Märzrevolution war auch die Geburtsstunde der Arbeiterbewegung in Deutschland. Erste Arbeiterkomitees gründeten sich, die kürzere Arbeitszeiten, Mindestlöhne und kostenfreie Bildung forderten und dafür streikten. Und: Nicht nur das Zusammentreten der Nationalversammlung jährt sich in diesem Jahr zum 175. Mal, auch die Veröffentlichung des „Kommunistischen Manifests“, das Karl Marx und Friedrich Engels quasi am Vorabend der Märzrevolution verfassten.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Erhard Grundl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zurufe von der AfD)

Meine Damen und Herren, bis heute sind die Ideale von Freiheit und Gleichheit nicht verwirklicht. Demokratie wird immer bedroht und unvollständig sein, wenn Macht und Eigentum in den Händen weniger konzentriert sind,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

wenn Interessen von Konzernen Vorrang vor den Bedürfnissen der Menschen und dem Erhalt natürlicher Lebensgrundlagen haben und solange nicht alle Menschen den gleichen Zugang zu Gütern und demokratischer Teilhabe haben. Demokratische Errungenschaften müssen verteidigt werden:

(Beifall der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE])

gegen das Erstarken von rechts, gegen Rassismus, gegen Menschenfeindlichkeit, gerade auch heute.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)