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Menschen nicht auf ihre wirtschaftliche Nützlichkeit reduzieren

Rede von Sevim Dagdelen,

Die FDP gibt mit dem Punktemodell die ihr eigene, nämlich dem Kapital verpflichtete, Antwort auf die wirtschaftlichen, demografischen und sozialen Herausforderungen. Ob das Kind nun „Greencard“, „temporäre Migration“ oder auch „zirkuläre Migration“, „Bluecard“ oder „Punktesystem“ heißt, ist egal. Die Konzepte sprechen allesamt die Sprache der nationalen Kosten-Nutzen-Kalkulation.

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 15 Jahren haben Sie, meine Damen und Herren von SPD, CDU/CSU und FDP, mit ihrer Asylrechtsreform das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft.
(Sebastian Edathy (SPD): Das hat mit Arbeitsmigration auch sehr viel zu tun!)
Das hat sehr viel damit zu tun, Herr Edathy. Seitdem führen Sie die migrationspolitische Debatte angeregter als je zuvor auf der Grundlage der Nützlichkeit der Menschen, der Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Verwertungslogik. Alles muss sich rechnen. Menschen, gleichgültig ob In- oder Ausländer, werden eingeteilt in Leistungsträger also nützliches Humankapital und in „Unnütze“, die keinen Gewinn bringen. Die FDP zeigt sich mit ihrem aktuellen Antrag zur Steuerung von Zuwanderung durch ein Punktesystem als herausragender Vertreter dieser menschenverachtenden Logik.
(Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Oh!)
Das heißt nämlich im Klartext, dass Menschen nach betriebswirtschaftlichen Merkmalen vermessen werden. Im Jahr 15 nach dem Brandanschlag in Solingen scheint es salonfähig und ohne Hemmungen möglich zu sein, Menschen nach Kosten-Nutzen-Kalkül zu selektieren. Ich bin empört über diese Haltung. Die Linke lehnt sie selbstverständlich ab.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Linke ist für Migration; in unserem Antrag aus dem letzten Jahr mit dem Titel „Für Humanität und Menschenrechte statt wirtschaftlicher ‚Nützlichkeit’ als Grundprinzipen der Migrationspolitik“ haben wir das auch dargelegt. Wir sind dagegen, dass Menschen durch ein Punktesystem ein Wert zugemessen wird und abhängig vom erzielten Punktewert ihre jeweiligen Rechte bemessen werden.
(Sebastian Edathy (SPD): Es geht doch nicht um Flüchtlinge! Es geht um Arbeitsmigration!)
Wir akzeptieren keinesfalls, dass Migrantinnen und Migranten nach Qualifikation und Arbeitsmarktlage in „Nützliche“ und „Unnütze“, in „Erwünschte“ und „Unerwünschte“ eingeteilt werden. Das Punktesystem, Herr Kollege Edathy, zementiert und legitimiert diesen gesellschaftlichen Status quo und damit die soziale Ungleichheit; denn Qualifizierung und Ausbildung werden gegen das Recht auf Migration ausgespielt.
Sie reden von Punkten, meine Damen und Herren. Ich rede von Menschenrechten und Humanität.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir lehnen eine Bewegungs- und Einreisefreiheit nur für die Gebildeten und die Reichen ab.
(Sebastian Edathy (SPD): Sondern?)
Die FDP gibt mit dem Punktemodell die ihr eigene, nämlich dem Kapital verpflichtete, Antwort auf die wirtschaftlichen, demografischen und sozialen Herausforderungen. Dieses Modell folgt auch dem EU-weiten Trend. Es existieren unterschiedliche Konzepte, am wirtschaftlichen Nutzen orientierte Modelle - von Frankreich bis Italien. Aber ob das Kind nun „Greencard“, „temporäre Migration“ oder auch „zirkuläre Migration“, „Bluecard“ oder „Punktesystem“ heißt, ist egal. Die Konzepte sprechen allesamt die Sprache der nationalen Kosten-Nutzen-Kalkulation, und das lehnen wir, wie gesagt, ab.
Dass Hochqualifizierte und Qualifizierte weniger Hürden auf dem Weg zu einem dauerhaften Aufenthalt mit rechtlicher und sozialer Absicherung haben, steht fest. Übel dran sind aber die Menschen, die zur Überbrückung von saisonalen Engpässen im Niedriglohnsektor eingestellt werden. Das ist nichts Neues. Das ist die zwingende Konsequenz aus der neoliberalen Logik, die Sie heute dartun: Alles für den Wirtschaftsstandort Deutschland, aber bitte nicht auf Kosten unserer nationalen Sicherungssysteme und auch nur, wenn die Anpassung an die deutsche Leitkultur gegeben ist! - Es geht um die alte Verbindung zwischen nationalistischem und ökonomischem Kalkül.
Ziel des Punktesystems soll die wirksame Bekämpfung des von der Wirtschaft beklagten Fachkräftemangels sein. Herr Grindel hat mir da vorgegriffen. Der sogenannte Fachkräftemangel ist umstritten. Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat 13 500 Betriebe einbezogen. Die Studie hat ergeben, dass es keinen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt. Der Wirtschaft so diese Studie gehe es offenbar vor allem um eine schnellere Besetzung offener Stellen und die Verhinderung höherer Lohnzahlung an die inländischen Fachkräfte. Es geht also um Lohndumping.
Kein Wort hier darüber, dass der beklagte Fachkräftemangel hausgemacht und auch politisch gewollt ist! Seit Jahren wird die Wirtschaft dafür belohnt, dass sie die Jugendlichen nicht mehr ausbildet. Kein Wort über die massiven Verbote und Einschränkungen für hier lebende Migrantinnen und Migranten bei der Ausbildung und auch bei der Erwerbsarbeit! Kein Wort auch über die halbe Million Akademikerinnen und Akademiker, deren Abschlüsse hier nicht anerkannt werden! Tatsache ist, dass die FDP den Unternehmen auch weiterhin die gesellschaftlichen Kosten für die schulische und berufliche Ausbildung ersparen möchte. Da passt das Punktesystem gut.
Was wir zur Lösung der sozialen Herausforderungen in der Bundesrepublik und auch in Europa stattdessen brauchen, sind Mindeststandards - Mindeststandards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ob sie nun aus Deutschland, aus Europa oder aus Staaten in anderen Teilen der Welt kommen.
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das alles kann man zusätzlich zum Punktesystem machen!)
Was wir mit Sicherheit nicht brauchen, ist das Punktesystem. Sozialdumping hat nichts mit Zuwanderung zu tun. Das sehen Sie auch an den 1-Euro-Jobs, die es in Deutschland flächendeckend gibt.
(Beifall bei der LINKEN - Sebastian Edathy (SPD): Was haben die mit Zuwanderung zu tun?)
In der EU bzw. in der Bundesrepublik muss endlich dafür gesorgt werden, dass am gleichen Ort für gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt wird. Das fordert auch der DGB. Deshalb: Her mit dem gesetzlichen Mindestlohn!
(Beifall bei der LINKEN)
Erhöhen Sie die Erwerbsquote von Frauen in diesem Bereich!
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sehen Sie sich die Studie vom IAB an! Wenn Sie das tun, werden Sie feststellen, dass der Fachkräftemangel in einem Mangel an jungen männlichen Ingenieuren besteht. Wir müssen die Erwerbsquote von Frauen in diesem Bereich steigern; denn die Frauen sind es, die arbeitslos sind und nicht in den Beschäftigungsbereich aufgenommen werden.
Sorgen Sie endlich für eine Ausbildungsplatzumlage, damit Jugendliche nicht ohne Berufsausbildung bleiben! Ich will es nicht akzeptieren, dass ca. 15 Prozent der Jugendlichen in diesem Land keine Berufsausbildung haben; anscheinend haben Sie sich damit abgefunden. 80 000 junge Menschen jährlich verlassen die Schule ohne Schulabschluss. Ich will mich damit nicht abfinden. Ich möchte eine Reformierung des Schulsystems und der Schulstrukturen.
(Sebastian Edathy (SPD): Dann gehen Sie in den Landtag, Frau Kollegin! Dann sind Sie hier falsch!)
Es geht nicht an, immer nur nach jungen, männlichen, dynamischen, gesunden Ingenieuren im Ausland Ausschau zu halten!
(Beifall bei der LINKEN)
Schaffen Sie die soziale Ungleichheit beim Hochschulzugang ab mit bundesweiten Regelungen zur Hochschulzulassung können Sie das erreichen ,
(Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist eine Einheitsrede!)
und schaffen Sie vor allen Dingen auch die Studiengebühren ab! Bauen Sie die Studienplatzkapazitäten aus, und öffnen Sie die Hochschulen auch für nichttraditionelle Studierende! Herr Röspel das ist ein Abgeordneter der SPD hat bei der Debatte über den Forschungsbericht heute meines Erachtens zutreffenderweise gesagt: Es kann doch nicht sein, dass ein Meister nicht studieren darf, aber der Abiturient schon. Ich sehe da keinen Unterschied. Warum sollen Absolventinnen und Absolventen aus dem Bereich der beruflichen Bildung nicht studieren und sich damit zu hochqualifizierten Fachkräften weiterbilden können?
Tun Sie endlich auch etwas für die Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse, und setzen Sie sich für die Abschaffung der Arbeits- und Ausbildungsverbote für Flüchtlinge ein!
(Beifall bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass die neoliberale Einheitsfront von FDP, SPD und Grünen
(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ein Punktesystem unterstützt. Wenn Sie sich von der FDP aber nicht nur mit den Lippen zu Art. 1 des Grundgesetzes bekennen wollen, sollten Sie sich gefälligst dafür schämen, dass Sie so einen menschenverachtenden Antrag eingebracht haben.
(Beifall bei der LINKEN Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Na, das war toll!)