Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir entscheiden hier heute über die Neuregelung der Suizidhilfe, und da unterstütze ich den Gesetzentwurf der Gruppe „Castellucci/Heveling“. Auch wenn wir heute über die Parteigrenzen hinweg argumentieren und abstimmen werden, ist unsere Entscheidung doch eine politische. Es geht nämlich nicht in erster Linie darum, welche Regelung jede und jeder von uns am besten mit dem eigenen Gewissen und der eigenen Weltanschauung vereinbaren kann, sondern eben auch um die Frage, in welchem Land, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Dabei ist es für mich zentral, wie die Politik mit Menschen umgeht, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Mir fehlt in der ganzen Debatte häufig ein realistischer Blick auf unsere Gesellschaft. Manchmal wird versucht, ein Bild von Selbstbestimmung zu zeichnen, das vollkommen losgelöst erscheint von den sozialen Bedingungen, von persönlichen und gesellschaftlichen Krisen und von dem Umfeld, in dem wir alle leben. Dieses Welt- und Menschenbild ist meiner Ansicht nach nicht besonders realistisch; es ist geprägt durch den Blick von wohlsituierten Menschen mit hoher Bildung und entsprechendem Selbstbewusstsein.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Wir leben doch in einer Zeit, in der die Menschen mit einer Abfolge von Krisen zu tun haben, die sie ganz oft an den Rand ihrer Kräfte oder sogar darüber hinaus bringen. Die Coronapandemie, die mit der Klimakrise verbundenen Naturkatastrophen, der Krieg und Existenzängste durch Inflation und finanzielle Not setzen viele Menschen unter Druck, und der wirkt sich auch auf die Seele aus. Depressionen, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen nehmen zu. Und auch unsere Hilfesysteme sind unter Druck: Mangel an Pflege- und Betreuungskräften, zu wenig Beratungsstellen, lange Wartezeiten bei Schuldenberatungen, Fachärztinnen und Fachärzten, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, fehlende Frauenhäuser und Gewaltschutzeinrichtungen sowie Jobcenter, die allzu oft den Druck noch erhöhen, anstatt die Menschen, die als Erwerbslose zu ihnen kommen, zu stärken – das ist doch die Situation.
Sehr, sehr viele Menschen denken in solchen Situationen daran, sich das Leben zu nehmen. Wohl jede Person, die Menschen in Not berät, wird damit konfrontiert, dass ihre Ratsuchenden sagen: Ich kann das nicht mehr, ich will so nicht mehr leben.
Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch diejenigen, die aus wohlüberlegter, freier und dauerhafter Entscheidung ihr Leben beenden wollen und dazu Hilfe suchen. Ihnen dies unter würdevollen Bedingungen zu ermöglichen, das halte ich natürlich für richtig. Und genau das leistet der Gesetzentwurf „Castellucci“.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Es steht uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, als Gesetzgeber nicht zu, die Motive Sterbewilliger zu bewerten. Aber wir haben doch die Verantwortung, sicherzustellen, dass die Selbsttötung nicht leichter gemacht wird als der Zugang zu unseren Hilfesystemen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Wir müssen dafür sorgen, dass niemand durch äußere oder innere Faktoren zum Suizid getrieben wird, ohne dass ein umfassendes und passendes Hilfeangebot gemacht wird.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Und wir müssen sicherstellen, dass die Person, die sich das Leben nehmen möchte, dies wirklich aus freien Stücken tut.
Wenn Sie noch unentschieden sind, nehmen Sie sich bitte diese Mail zu Herzen, die ich im April bekommen habe. Mir schrieb ein Freund:
"Liebe Kathrin, am vergangenen Mittwoch hat sich meine langjährige Lebensgefährtin für mich völlig überraschend das Leben genommen. Es war ein Freitod, assistiert von der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Meine Lebensgefährtin litt seit vielen Jahren unter unklaren Krankheitssymptomen (Fieber, Schwitzen, Atemnot, Kopfschmerzen etc.), hatte sich immer mehr aus dem Leben zurückgezogen und ging überhaupt nicht mehr vor die Tür. … Für mich als Laien deutete einiges auf eine depressive Störung hin. Letzten November stellte sie bei der DGHS den Antrag auf Suizidbegleitung, Anfang Februar kam ein Rechtsanwalt, der ihren Wunsch protokollierte und bestätigte, dass sie bei vollem Bewusstsein und alles wohlüberlegt sei, gleiches bestätigte auch die begleitende Ärztin, die sie Mitte Februar aufsuchte. … Was mich fassungslos macht, ist neben tiefer Trauer über den Tod einer nahen Angehörigen, dass die begleitende Ärztin, eine Radiologin, in ihrer Stellungnahme eine depressive Grundhaltung nicht einmal in Erwägung gezogen hat, geschweige denn ein psychiatrisches Gutachten einforderte. Offensichtlich wurde hier die noch bestehende Gesetzeslücke ausgenutzt, vielleicht ist sogar einer zutiefst labilen Frau der Freitod nahegelegt worden."
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie diese Erfahrung meines Freundes genauso bewegt, wie sie mich bewegt hat, dann lassen Sie uns heute diese Gesetzeslücke schließen. Bitte stimmen Sie für den Gesetzentwurf der Gruppe „Castellucci“.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)